Für Zwischendurch: Briefe eines jungen Frisörengehirns an den Psychiater (2000)

 

4.3.2000, Bern

 

Sehr geehrter Herr Doktor

 

Mein briefliches Thema: Wie, glauben Sie, soll ich es lieben, das in mir fühlt, wenn die Welt es nicht liebt? Ich bin gerade verdammt zornig, weil mir die Welt in allem, was ich mir für sie ausmale an Gestalt, Mode, Verführungskraft und Schönheit, Witz, Drama, Schmerz, Genuss etc., einfach nicht gehorcht! Sie will vor die Hunde gehen in reiner Funktionalität, na bitte! Aber mich hungert! Nach einem ganz, ganz ernsten Vergnügen!

Ach ja, noch was anderes: Irgendwie weiss ich immer noch nicht, was für eine Erwerbsarbeit ich ausüben könnte. Sie haben mich neulich aufgefordert, darüber nachzudenken, ob ich den Job im Ryffliyhof, Coop City, Warenhaus, nicht annehmen will. Jedoch, ich bin zum Schluss gekommen: ich bin zu lebhaft, zu sperrig um am Fliessband, sprich; an der Kasse zu stehen! Selbstverständlich weiss ich, dass etwas anderes als der Detailhandel oder allenfalls eine Frisörlehre im zweiten Bildungsgang meinem schulischen Niveau nicht entspricht. Aber wissen Sie: ich habe geradezu panische angst als Kassiererin an einer Kasse in einem grossen Warenhaus mein Leben zu verlieren! Ich will dort nur hin, um schöne Kleidchen zu shoppen, die ich mir dann anziehe in einem Augenblick, in dem mein Leben zählt!  Und ich etwas von mir bieten kann, darf und muss!

Wowowowow! Was bin ich für ein oberflächliches Gänschen! Herr Doktor! Wenn ich in einem Warenhaus aber an der Kasse sitze und Beträge eintippe und sage Guten Tag und auf Wiedersehen acht Stunden lang am Tag, so fühle ich fast jede Stunde durchwegs in mir tief Innen eine unsagbare Angst! Der Tod, der durch meinen fragilen Körper ja doch fast immer hindurch spricht, lauert mir dann mit aller Macht, unter extremen Beschwerden auf! Ich könnte den jämmerlichen Lebensschatz meines Lebens, den ich in dieser Zeit nicht suchen kann, weil die Erwerbsarbeit mich daran hindert, verlieren! Für immer!

Die Erwerbsarbeit fordert all meine physische und nervliche Kraft, ich aber kann nicht sein, ohne so etwas wie den jämmerlichen Schatz meines Lebens zu jagen, zu suchen, zu umzingeln!

Herr Doktor, wenn ich genug physische Kraft hätte würde ich acht Stunden am Tag an der Kasse sitzen und für meine Suche nach dem Leben, das ich vielleicht niemals finde, den  Lohn kassieren. Und dann würde ich die weiteren acht Stunden ein bisschen rumhüpfen, ein wenig küssen, und noch acht Stunden gratis Einkassieren obendrauf! Und all das würde sehr viel Sinn machen in der Kraft!

Sie sagen, es sei jetzt, mit Sechsundzwanzig, langsam an der Zeit für mich, erwachsen zu werden. Ja, gut, ich bin spät dran, da haben Sie recht. Aber ich möchte meine freien Weideplätzchen nicht aufgeben, nur um auf einer Ebene mit den „Grossen“ zu funktionieren. Ich hätte das ungute Gefühl, ich täte das nur um ihnen zu gefallen! Dabei würden sie doch nur applaudieren, weil ich wie sie funktioniere, was, auch wenn ich mich noch so anstrengen würde, niemals der Fall wäre. Ich aber möchte ihnen auf eine ganz andere Art gefallen. Wissen Sie wie ich es meine, Herr Doktor?

Mit freundlichen Grüssen J. Stürmchen

 

(2000, Bordi-Collection)

 

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