Portrait_die Dübendorfer

Den unglücklichsten Menschen, den ich je traf, war die Dübendorfer.
Nie werde ich den eisig blauen, verzerrten Blick ihrer Verzweiflung vergessen, ihre trübe Stimme, in der alle Hoffnung erstorben war.
Was die Dübendorfer so unglücklich machte, bekam ich nicht sofort raus. Auf dem Sims neben ihrem Bett lagen ein paar richterliche Briefumschläge herum, einige zu, andere geöffnet.

Manchmal sass ich mit der Dübendorfer in der kleinen stickigen Patientenküche, und wir rührten mit dem Finger in unserem Tee
den Zucker um, weil es in der Schublade mal wieder keine Löffel hatte.

Nie zog die Dübendorfer in diesem Winter ihre Daunenjacke aus, auch nicht im Bett, auch nicht, als sie mehrmals verwarnt wurde,
dass man nicht in Strassenkleidern schläft.

Wenn Jens seine Runden im Gang zählte und ihm die Dübendorfer entgegenkam, hörte er auf zu zählen und verschwand schnell, weil ihn die Dübendorfer mit ihrem, bis in die letzte Geste, lebensmüden Gang, ihrem Stöhnen und dem überwachen Blick der blauen Iris verängstigte.

Als ich die Station verliess, war die Dübendorfer bereits ein Jahr da. An unserem letzten Tag stahl sie ein altes Brot, das wir unten im Hof teilten. Die eine Hälfte assen wir, die andere fütterten wir den Spatzen.

Mittlerweile wusste ich, dass die Dübendorfer ein Kind mit einem angeborenen schweren Herzfehler hatte, das fremd platziert worden war. Sie, die Dübendorfer, war einmal während eines schweren Anfalls des Kindes nicht zur Stelle. Das Kind war danach lange im Spital. Es stellte sich heraus, dass die Dübendorfer mit Job und Kind überfordert war, die Behörden wurden eingeschaltet.

„Es ist nicht selbstverständlich, dass die Spatzen das Brot aus meiner Hand fressen. Du weisst ja, dass ich mit diesen Händen mein Kind tötete.“  – „Warum sollte das Brot den Spatzen anders schmecken, wenn dem so wäre?“

Die Dübendorfer erwähnte eine Telepathie zwischen sich und den Vögeln. Es überfiel sie die Gewissheit, dass mindestens einer der Spatzen in wenigen Minuten tot umfallen würde, weil das Brot durch sie, die Dübendorfer, vergiftet war. Ich aber würde nicht tot umfallen, weil ich von Dübendorfers Tat wüsste. Ich bekäme nur grässliches Magenbrennen.

Ich stand auf und verliess das Areal. Lange konnte ich keinen einzigen Gedanken fassen.

Ich weiss nicht, was wurde aus der Dübendorfer.

 

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