3004_Diary_die Festung

Als junge Frau suchte ich den Puls des Lebens, ich litt furchtbar, weil ich die künstlerische Gemeinschaft nicht fand, ich hatte damals gedacht, ich werde eine Art Gruppe von Leuten finden und mit ihnen gemeinsam um einen Kaffeetisch sitzen, so wie Beauvoir und die Existenzialisten. Ich wusste, ich war als Nicht-Intellektuelle nicht ganz passend, aber vielleicht würde ich mich doch dazu gesellen können, wer weiss. Aber dann staunte ich, dass es keine solche Gemeinschaft gab,  dass das bürgerliche Modell alles auffrass, spätestens Mitte Zwanzig oder Dreissig einzelne Querdenker und Lebenskünstler sich selbst in die Kleinfamilie versorgten. Also so war das zumindest hier, in Bern.

Ich hätte weggehen sollen, unbedingt weggehen. Aber mein physischer Lockdown entwickelte sich sehr früh und dadurch auch fast parallel zum sozialen Lockdown, schleichend, über Jahre.

Nun, da, wo ich jetzt bin, kommt plötzlich ein externer Lockdown dazu, eine Schliessung, die die Welt selbst betrifft; sie, die starke, unverwundbare Welt, die so fehlerlos ist! Für mich fühlt sich das jetzt an, als gäbe es kein Entrinnen mehr für mich und keine Auswege mehr. Ich sehe die Welt von meiner Festung aus, wie sie nun auch erkrankt ist, erkaltet. Wie sie um ihre „Errungenschafen“ kämpft und im „Verwaltungsversuch“ der ursprünglich organischen Lebensrealität Contenance bewahren versucht. Ich weiss, ich kann nichts mehr von dieser jetzt selbst erkrankten Welt erwarten (die katholische Kirche könnte ich noch für einen Besuchsdienst fragen, hiess es). Aber ich kann ihr auch nichts geben, denn sie will nichts und braucht das Meinige nicht, schon gar nicht jetzt, wo sie Gefahrläuft, ihre eigene Signatur nicht mehr lesen zu können….

Sie (die Aussenwelt) erdultet Leute wie mich, die krank od krank u zugleich anders sind (oder nur anders sind), nachdem sie sich für eine kurze Zeit heftig um uns bemüht. Doch wenn die Integration nicht gelingt und die finanzielle Lage geregelt ist, wendet sich diese Welt bis zur Unkenntlichkeit von einem ab. Es gibt dann für Leute wie mich nichts mehr zu tun.

Das ist im Prinzip unglaublich, wenn man bedenkt, dass das Leben und seine Ressourcen einfach da wären, präsent obenaufliegend!

Aber ich kann ja nicht allein an meiner Welt aus Schönheit tüfteln…. ich kann nicht allein um den Zauber ringen…….——–

Ich kann in dieser Abgetrenntheit vom Essentiellen* und in diesem Vakuum meines entropischen Selbst (als Folge meiner mehrfach verschalten Isolation) nicht mehr leben.

Ich erinnere mich an mein Unvermögen anzuerkennen, dass ich nirgendwo meine existenzielle Gemeinschaft gefunden hatte, keine Menschen, die einfach lebten und Kunst machten (und einen Job nebenbei, falls nötig). Dies konnte ich um die Dreissig kaum akzeptieren.

Aber dieses Abgetrenntsein jetzt ist unwirklich, es ist, als wäre ich seit langer langer Zeit auf dem Mond und schaute zurück auf meine Paar Kinderschritte, die ich auf dem Globus versucht hatte (und die mir misslungen waren). Es ist, als wären die Jahre respektive die Jahrzehnte, während denen ich noch interagierte mit den Institutionen (Jobcenter, Psychiater, Begegnungen mit Menschen zum ZWECK, SBB-Zugfahren, nächtliche Frust- oder Suff-Ausgänge, Einkaufen im Supermarkt und Flanieren durch die Städte, die wenigen Reisen in andere Länder, Bahnhöfe usw.), als wäre all das in einem andern Leben passiert, in einer Welt, die es nicht mehr gibt und zu deren Bewohnern ich keinen Bezug resp. Schnittpunkte der Gemeinsamkeit mehr habe.

Wenn mein neuer HA mein Exitgesuch unterstützt, steigen meine Chancen auf ein erkauftes Ende stark an. Es wäre mein erster und einziger Sieg, dann.

Das Versagen liegt über mir und erdrückt mich. Es ist ein physischer Schmerz. Es fühlt sich an, wie wenn ein Reissgebiss meinen Solarplexus in Stücke beisst.

*das Essentielle?: na, ein Leben, das sich nach den menschlichen Grundbedürfnissen ausrichtet und also eine Welt, in der man Zugang pflegt zum sinnlichen Erleben, eine Welt, in der es ein Leben auf der Strasse gibt und in den öffentlichen Räumen…. eine Welt, in der es Romantik gibt und Menschen sich romantisch bilden, nicht verwalterisch, eine Welt, in der die Erwachsenen erotisch und kindlich bleiben… eine Welt, in der man vollends genug hat am sinnlichen Dasein und daher den wirtschaftlichen Fortschritt stoppen darf, das Game und den Todestrieb stoppen darf… usw

In dieser Welt, die ich will, werde ich mit vielen Menschen Liebesworte und zärtliche, raffinierte Berührungen tauschen, werde mein Brot entweder selber backen oder wissen, wo ich es hole. Und daher werde ich den ganzen Waren-Wahnsinn-Karumpel an den Nagel hängen, das Online-Shopping der tausend kleinen Gegenstände, die ich jage…. nur, um ein bisschen Oxitocyn auszuschütten und zudem gesagt zu bekommen von einer Maske: Danke Marion-Jeanne, es ist schön, dich auf unserer Seite wiederzusehen! Schau unsere neusten Trendartikel! Extra für dich!“ Sowas brauch ich dann nicht mehr. Weil ich dann das echte Leben lebe.
Aber allein kann ich das nicht. Da muss mir schon jemand helfen.

Leider muss mir auch sonst jemand helfen.

Aber ich, ich kann auch was: ICH KANN DIR HELFEN, DICH AUS DEINER FESTUNG ZU BEFREIEN.

(11.4.21)

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