Portrait_Blanca

Blancas Vater arbeitete in der Firma Neopac am Bach, ganz in der Nähe, wo er mit seiner Frau und Blanca auch wohnte, in einem Häuschen für ausländische Angestellte. Die Neopac machte Tuben und Dosen, glaube ich. Schon früh, morgens um Sieben war das alte Gebäude, das auf meinem Schulweg lag, hell erleuchtet. Die Angestellten trugen alle Hauben und Überkleider in hellen, mintigen Farben. Das grelle Licht reflektierte den Bach und warf etwas Licht auf meinen dunklen Schulweg, der auf der andern Seite von einem Felsen gesäumt wurde. War es Winter und dunkel, machte ich immer ganz schnell, dass ich von diesem Teil meines Schulwegs wegkam. Es gab auch einen Umweg, durchs Dorf und am Bäcker vorbei. Dieser Weg gefiel mir viel besser, doch dauerte er eben länger.

Blanca, die Spanierin war, sagte mir, sie komme von einem Meer, das ihren Namen trage. Ich sagte, das könne nicht sein. Ein Mädchen könne nicht den Namen eines Meeres tragen, ein Meer nicht den Namen eines Mädchens.
Wie das oft der Fall ist, wurden in der Schule die schlechten Schüler neben die komischen gesetzt, manchmal auch die schlechten neben die schlechten, nie aber ein exzellent guter Schüler neben einen schlechten. Ein beliebter Schüler neben einen komischen.

Blanca und ich sassen am vordersten Pult im Hufeisen. Wir redeten wenig miteinander, da Blanca auch in der zweiten Klasse noch schlecht Deutsch sprach. Abgesehen davon wurden wir, weil wir zuvorderst sassen, immer sofort ermahnt, wenn wir mal schwatzten.

Einmal mussten wir gemeinsam eine grosse Weltkarte ausmalen, sie war über das ganze Pult gespannt, die Namen der Länder standen mit grossen klaren Lettern in den rudimentär gezeichneten Ländern drin. Wir lasen sie nicht, da wir mit Ausmalen einer so riesigen Karte über und über beschäftigt waren. Genaugenommen kritztele Blanca mit einer pinkigen Farbe über alle Ländergrenzen hinweg. So ein Farbstift von Caran d’Ache hat einen sehr feinen Strich, so dass man, wollte man jemals fertig werden, anfing zu schluddern, verständlicherweise! Auf alle Fälle Blanca und ich. Trotzdem ging mir Blancas Schludderei ein wenig zu weit, und ich sagte: „Hey, du kannst nicht alle Länder einfach in derselben Farbe ausmalen, du musst die Linien beachten, hinter denen ein anderes Land kommt. Und für dieses nimmst du eine andere Farbe!“ Blanca, die schon das ganze westliche Europa in Pink getaucht hatte, legte den Farbstift weg. Ich sah, wie sie einen Radiergummi nahm, im grossen Stil die Farbe ausradierte. Dann griff sie zu meinem Erstaunen nach einem Bleistift und zog diesen ganz langsam den rudimentären, aber deutlich gezeichneten Linien der Länder entlang. „Was soll denn nun das schon wieder?!“, rief ich aus. Blanca ging dazu über, das Innere der Länder mit Bleistift auszumalen, all diese Länder, die sie erst in einem schluddrigen Pink übermalen und dann ausradiert hatte. „Du musst die Länder nicht mit Bleistift ausmalen, warum tust du das!?“, sagte ich genervt. Da griff sie wieder nach dem Radiergummi und fing wieder an zu radieren, diesmal die etlich sauberer gesetzten Bleistiftspuren. Die spinnt wohl, dachte ich. Und weil die Lehrerin sah, dass wir nicht gerade weit voran waren mit unserem Auftrag, rief ich es laut: „Die spinnt wohl!“

Ich weiss nicht, ob sich Blanca da zuerst zu mir herüber beugte, oder ob ich ihr zuerst den Bleistift aus der Hand stehlen wollte. Es ging so schnell und alles wie von selbst:  Der Bleistift traf meinen rechten Mittelfinger, stiess zu und brach dann ab! Eine Bleistiftkugel hockte in der Tiefe meines Fingers, nicht einmal Blut floss! Ich war baff. Und weil der Arzt sagte, so ein wenig Blei im Finger schade nichts, habe ich den Spitz nie entfernt. Dies obschon ich mehr als einmal zweifelte, ob der Arzt wirklich recht hatte.

Aber jetzt habe ich schon viele, viele Jahre mit diesem bleiernen Finger gelebt. Er scheint tiefer und tiefer in mein Fleisch hineinzuwachsen. Vielleicht wird er doch noch in meine Blutbahn abwandern?

Wenn ich ihn anblicke, denke an meinen Schulweg mit der Neopac am Bach, wo Blancas Vater für wenig Geld stundenlang Tuben zusammensetzte, an die Art, wie Blanca die Weltkarte ausmalte, indem sie einfach alle Grenzen mit schluddrigen Strichen übermalte – wie recht sie doch hatte – und an ihren Namen, der den Namen einer Küste trägt, wo der Sand sehr, sehr hell, fast weiss goldig schimmert.

Ich habe nie mehr etwas gehört von Blanca.

(29.7.22)

Tags: No tags

Add a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *