Memory: Tor zum Emmental

Im Oktober vor 30 Jahren war ich mal mit Clara im Kartoffelacker.

Der Acker lag am Hang, steil unter dem Bauernhaus, in dem Clara mit ihren Eltern und vier Brüdern wohnte.

Claras Bruder Johann trug einen blauen Overall und ging schon mal mit dem Traktor los.  Während wir andern in der Eckbank der nierigen Bauernstube Rosenkohl mit Blutwurst und …. Kartoffeln assen. Ich wollte keine Blutwurst essen, darum verstand ich nicht, warum mir das Wasser im Mund zusammenlief bei ihrem Anblick.  „Nein, lieber keine Blutwurst! Oder vielleicht: nur ein kleines Bisschen!“, sagte ich.

Der Marsch hierhier nach Schulschluss hatte von der Postautostation 50 Minuten gedauert.

Clara trug Zöpfe und ihre Nase war mit kleinen schwarzen Mitessern überzogen. Bei ihr daheim wurde mit Holz gefeuert, die Stube hing voller Rauch.

Allein wegen ihren blauen, Wimpern umkränzten Augen, war Clara trotzdem die Hübscheste meiner Klasse. Aber das dachte ich erst später.

Johann, Claras, vierzehnzehnjähriger Bruder, liess mir über seine Schwester zwei Jahre lang regelmässig kleine, sorgfältige Botschaften zukommen:

„Heute Morgen regnete es, doch nachmittags kam die Sonne. Ich hatte frei und hörte die neue Kassette von Roland Kaiser. Ich finde übrigens, du hast eine sehr schöne Figur. Auch wenn du ein bisschen dünn bist. Was hörst du so für Musik?“ Usw.

Diese Botschaften waren auf verziertes Kinderpapier geschrieben, und ich beantwortete sie immer pünktlich.  Meistens auf Rosapapier, aber ein wenig frecher. Mit anderen Worten: Johann und ich führten eine lange Brieffreundschaft mit vielen Unaussprechlichkeiten. Diese brach auch nicht ab, als ich für zwei Wochen mit dem schönen Tim, Sohn des Fellhändlers vom Dorf (eine riesige Fabrik!), Händchen hielt– widerstrebend.

Die Schüler vom Emmental waren anders, als die Hinzugezogenen und Neureichen. Ich fühlte mich auf eine seltsame Weise zu ihnen hingezogen. Vielleicht, weil sie mehr staunten, ruppiger und gleichzeitig freundlicher waren, als wir. Natürlich auch zum Lehrer. Im Gegensatz zu uns konnten sie nicht auf ihre Eltern zählen, die im Zweifelsfall (wenn sie Mist gebaut hatten), den Lehrer dafür versohlten.

Meine Eltern waren Introvertierte, die sich in den 70iger Jahren ein schlichtes Einfamilienhaus erbauen liessen. Ihr Hintergrund war ein anderer, als derjenige, die zehn, fünfzehn Jahre später ihre Häuser und Villen bauten. Unser Quartier wurde eine komische Mischung aus solchen, die sich hochgearbeitet hatten und nicht zeigen wollten, was sie hatten. Und Protzern.

Äusserlich war ich eine begeisterte Anhängerin der frühen Neunziger Jahre: Rollschuhe, neonfarbene Kleidung, Dauerwellen mit blonden Strähnen, Madonna und George-Michael-Kassetten … all das hatte ich. Und was sind das anderes als kleine, nach Aussen hin zelebrierte Statussymbole?

Dass Johann Schlagermusik von Roland Kaiser hörte imponierte mir mächtig. „Unerreichbar nah sind deine Lippen mir. Unerreichbar nah der zarte Duft von dir …“

Im Grunde war der deutsche Schlager ja viel schöner und echter als der Pop aus Amerika. Auf alle Fälle, wenn ich oben in den Hügeln war, bei Clara und Johann, empfand ich den Schlager als klaren Edelstein, der mit grossartigem Ernst über Wälder und Wiesen perlte, während der Pop, den wir unten konsumierten, nichts anderes als Plastik war, so, wie meine goldgesprenkelten Ohrhänger oder die zurück geschnittenen Lackgürtel.

Ich tauchte etwa fünf Rosenkohlstücke in Béchamel-Sauce und legte mich knurrendem Magen Messer und Gabel über den Teller. Mit Claras kleinem Bruder gingen wir dann hinunter zum Acker und begannen mit der Kartoffellese. Die Erde war aussergewöhnlich kühl und weich.

Ich griff mit der linken Hand hinein, spürte eine helle Freude, sobald ich den Umfang und die Grösse abgetastet respektive die Kartoffel ans Licht gefischt hatte und legte sie dann in den Korb, den Johann von Zeit zu Zeit leerte.

Er sass aufrecht in seinem blauen Overall im Traktor und beachtete mich kein einziges mal. Ich fand ihn jetzt grossartig. Viel grossartiger als in seinen unterwürfigen Briefen. Wir arbeiteten den ganzen Nachmittag, die Sonne ging schon unter. Von überallher stieg Dunst auf, der atemberaubende Tag versank darin.

Es ist einer von jenen Tagen, die ich immer wieder vor Augen habe, seit einigen Jahren.

Vielleicht, weil ich spürte, wie wurzellos ich bin, während ich die Kartoffeln ausgrub und mich schweigend nützlich machte. Clara und Johann hatte diese Wurzeln.

Später soll er einen flixigen Sportwagen durchs Dorf gefahren haben, einen Manta. Clara hielt sich mit unterbezahlten Jobs über Wasser, ehe sie mit einem Kind, ohne Mann dastand.

Täusche ich mich, oder kann das, was wir in unserem Leben und somit der Zukunft sehen, wenn wir Fünfzehn sind, niederbrennen wie eine Kerze?

1.11.2020

 

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