Diary, 29.10.2020 (mit einer Szene aus „the Piano“)

In einem Zustand kompletter Besinnungslosigkeit konnte ich zusehen, wie jemand seinen Arm mehrmals nach einer wildfremden Person ausstreckte; ich. Eine Stimme rief, ich hörte es: „Give me your hand, please … please … give me your hand …. please …!“ Meine Stimme war’s.
Ich sah die fremde Person, sie war im Pyjama und mit Mundschutz ins Treppenhaus gekommen, wo ich im Reifrock niedergestürzt war wie Holly Hunter, nachdem ihr ihr Mann mit dem Beil den Ringfinger auf einem Holzstumpf abgetrennt hatte. Sie stürzte, sank ein, ihr Rock bauschte sich wie Gefieder zum Flug und krallte sich fest in meterdickem Schlamm. Seltsam aufrecht und starr blieb ihre Büste, während das Blut aus ihren Wangen wich, ihr Blick sich nach Innen kehrte. Zweimal zuckten die Lider. Dann fiel auch der Oberkörper vornüber. Ich weiss nicht, hatte sie das Bewusstsein verloren oder stürzte sie in einem Augenblick völliger Klarheit. Wie war dieser Schmerz?  Bekanntlich spielte sie anschliessend Klavier mit einer Stahlprothese, die Bates ihr angefertigt hatte.

Eines Nachts im November hatte ich einen Ausschlag und sah mich in einem Zeitkampf gegen den anaphylaktischen Schock. Ich lief aus dem Haus und klingelte an einer Türe. Es war das einzige Haus mit einem Fenster, in dem noch Licht brannte. Eine Frau, ein Engel, erschien mir und ich flehte: „Können Sie meine Hand halten, können Sie meine Hand halten!“ Die Frau, der Engel, hielt meine Hand, so lange, bis die Ambulanz kam. (das war noch vor Corona)

Hast du das je erlebt, dass du, in grösster Not, die Hand nach einem Menschen ausstreckst? Dass du in dem Moment, in dem alles über dir zusammenbricht, nur eines brauchst: eine Hand, die die deine hält …?

Ich habe die Menschen vielleicht nie geliebt. Aber um eine Hand zu halten, verlor ich alle Scham, alle Zurückhaltung. Schmerz betäubte mich, ich wusste nicht mehr, wer ich war, war quasi halbwegs aus meinem Leib hinaus gestellt. Und hörte mich betteln: „Give me your hand … please … give me your hand … I need a hand …“ Diese einzige hypothetische übrig gebliebene Verbindung.

Aber die Frau mit dem Mundschutz gab mir ihre Hand nicht. Sie nahm nicht meinen Arm, den ich ihr schluchzend entgegenstreckte, wieder und wieder.
Ich bin sicher, sie verstand, was ich meinte, doch ignorierte sie meine Flehen komplett. „in this situation we are all sometimes. I am also alone and my husband left.“

Ich staunte, wie wenig ich von dem verstand, was sie sagte. Während ich im Schlamm versank, rund um meinen bebenden Körper das Gefieder des schwarzen Reifrocks sich in Wellen bäumte. Seit vier Wochen habe ich ihn nie mehr ausgezogen, und ich werde ihn NUN nie mehr ausziehen, ich will Teilhaben an seiner Verschlammung.

Es muss einen Tod im Leben geben, der schrecklicher ist als der reale. Ein Tod, in dem man sich an wildfremde Menschen klammern will, an Feinde, an zufällige Passanten … oder sogar an den, der einen mit Gewalt ins Treppenhaus wirft.

Ich hab mich in dieser Nacht an einen Körper werfen wollen. Ich wollte jemanden umfassen und umklammern, solange, bis alles vorbei ist. Bis ich hinabsinken kann in Hades Loch und für immer in der Unterwelt auf einem Schilfboot der Nacht dahingleiten.

Oh, wie ich mich freue auf diesen Frieden!
Thanatos war kein böser Gott und Hades wird mich gern haben, denn ich bin Penelope nicht unähnlich.

Auch ich habe Blumen gepflückt bei Tage, als ich noch jung, gesund und schön war. Und nachst stieg ich durch den geöffneten Deckel hinab in Hades Reich.

Aber ich mache mir Gedanken: wenn ich keine Hand finde, nur, weil ich blödsinnigerweise ins Treppenhaus geworfen wurde, weil ich was Dummes getan habe: wie soll ich dann sterben, wenn ich zum letzten Mal sterbe? Werde ich mir jemanden organisieren müssen, der/die mir die Hand hält bis ich dieser verdammten Situation entkommen bin?!

Ich will aber keine Hand organisieren. Ich  will irgendeine Hand! Irgendeine Hand! Am Schluss, in der Not, kommt mir etwas hoch: ein Bedürfnis, das ich ein Leben lang unterdrückte, so wie es die Konformität verlangt. Wie eine Lawine bricht es durch mich hindurch: „Give me your hand …. i must FEEL your hand …“

Insane. Wer Glück hat wird dieses Ausgeliefertsein nie erleben, wird immer innerhalb dieses brüchigen Kreises bleiben, den wir uns erschaffen haben.

Im Kindergarten bildeten wir einen Kreis und hielten uns an den Händen.

Holly Hunter floh mit Bates übers Meer. Das an einem Strick befestigte Klavier eschwerte das Boot, also warfen sie es über Board. Holly Hunters blieb mit dem Fuss in der Kordel des Stricks stecken, vielleicht, weil sie im letzten Moment ihr Klavier doch behalten wollte? Mit einem gewaltigen Zug riss das geliebte Klavier Holly Hunter am Strick mit sich in die Tiefen des Pazifiks … unter Wasser strampelte sie solange, bis sich der Schuh von ihrem Fuss löste … der Rest ist Film …

oh, warum kann ich nicht einfach den Film wechseln, die Rolle, den Körper, mein Herz, mein Gehirn.

Es gab bereits einmal einen Winter, da träumte ich davon, jeden Menschen sein zu dürfen. Nur mich selbst wollte ich nicht länger sein.

 

 

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