Prosa_Lina

 

Gestern ist Lina gestorben. Aber vielleicht ist sie gar nicht gestorben, sondern reitet in einer goldenen Postkutsche gerade durch die verruchten Klassen des Himmels. Lina ist die Diakonisse, die ich in den letzten Jahren oben auf dem Pfefferhügel neben dem Weltispital manchmal besucht habe. Linas Leben war spannend, und ich könnte darüber sicher das eine oder andere erzählen. So zum Beispiel, dass Lina bis auf zwei von der Diakonie geliehnen groben Röcke, den vielen Postkarten und Fotoalben nichts Persönliches besessen hat in ihrem langen Leben. Obwohl sie ihr Leben in den Dienst von Jesus Christus stellte, und glaubte, dass nicht alle Menschen mit einer goldenen Postkutsche durch den Himmel reiten, liebte Lina die Menschen fast wider Willen. Ein paar Jahre vor ihrem Tod hat mir Lina plötzlich jedoch durch die Blume verlauten lassen, dass ihr das Leben in der Schwesterngemeinschaft nicht mehr gefällt, und sie ist noch einmal „ausgebüchst“. Ja, sie wollte sogar ihren Orden zurückgeben und wurde heimlich ein  Mitglied der obskuren spiritistischen Vereinigung „die heiligen Lichtflüsterer“! Aber ich glaube, das war nur eine kleine Verzweiflungstat. Im Grunde wollte Lina einfach noch einmal die Freiheit spüren!

Entschieden hat sich Linas Lebensweg Anfang der Dreissigerjahre. Damals kellnerte die Achtzehnjährige widerwillig im Gasthof Seeblick im Berner Oberland, als der Dorfpfarrer diesen betrat. Er war der Freund des Wirts und trank im Seeblick regelmässig seinen Kirsch. Dabei setzte er sich immer unmittelbar hinter der Theke an den Stammtisch und nicht zu den Bauern und Arbeitern, die an den umliegenden Tischen hockten. Lina hatte die Anweisung des Wirts, das Glas des Dorfpfarrers immer grosszügig über den Strich hinaus mit Kirsch zu füllen, die Gläser der Arbeiter und Bauern aber nur bis unterhalb des Strichs. Weil Lina diese Anweisung des Wirts überging, und auch die Gläser der Arbeiter und Bauern bis über den Strich hinaus mit Kirsch füllte, ja eben gerade diese!, wollte der Wirt sie weghaben. Er setzte sich darum zum Dorfpfarrer an den Stammtisch und unterbreitete diesem das Problem, worauf der Dorfpfarrer Lina zu sich an den Tisch rief. Nein, sie ist wirklich keine hübsche Serviertochter mit ihrer grossen Hockernase, dem leichten Buckel und dem Äffchengebiss, dachte der Dorfpfarrer. In der Ehe wird sie es schwer haben. Aber vielleicht kann ich sie in Bern bei den Diakonissen als Krankenschwester unterbringen. Er musterte Lina verwundert, und versuchte vergeblich sie mit ein paar Frivolitäten zu ermuntern. Lina war für Flirtspiele gerade so zugänglich wie ein unpräparierter Stein. „Nein, füll ruhig voll auf, Mädchen!“, sagte der Pfarrer. Worauf Lina Kirschflasche einfach neben ihm auf Tisch stellte und zum masslosen Ärger des Wirts hinter der Theke verschwand.

Die Option, dass unverheiratete Frauen, die nicht über die  besten Waffen der Reproduktion verfügten, in den Orden eintraten, war damals nicht komplett abwegig. Mir war allerdings nie klar, ob sich Lina tatsächlich nichts aus Männern machte, oder ob sie sich einfach in die ihr übertragene Rolle fügte, wie man das von einer Frau wie ihr erwartete. Jesus, dem sie diente, war schliesslich auch ein Mann! „Aber Linchen, hast du wirklich noch nie einen Mann gehabt?“ fragte ich sie als kleines Mädchen manchmal, wenn sie bei uns auf Besuch war,  während meine Schwester Valentina ihre pappmaschige, mit mindestens vierzig Haarnadeln befestigte Schwesternhaube öffnete. Das offene schwarze Haar fiel Lina bis in die Kniekehlen. Valentina reichte mir die Nadeln und fing an, einen Haarstrang um den nächsten zu einem Zopf zu flechten. Ich stand daneben und staunte „Du weißt doch, Jeanny, sie ist nur mit dem da oben verheiratet!“ Valentina machte eine ärgerliche Kopfbewegung gegen die Stubendecke, worauf ich betroffen dreinblickte.  Lina, die herzlich lachte, drückte mich an sich. Sie nannte mich zärtlich Finöggeli.*

Lina war Oberärztin auf der Augenabteilung im Weltispital, wo sie Neunzehnhundertsiebzig im Operationssaal auf eine frisch ausgebildete Krankenpflegerin, meine  Mutter, traf. Später waren wir mit Lina in Niederösterreich in den Sommerferien. Das kleine Kaff lag nahe an der slowakischen Grenze und war von wogenden Korn- und Sonnenblumenfeldern umgeben, soweit das Auge reichte.


In den letzten Wochen und Monaten ihres Lebens, als sie schon mit Sauerstoff versorgt werden musste, liess sich Lina jeden zweiten Sonntag im Monat von Didi zu den „Heiligen Lichtflüsterern“ fahren. Dies geschah heimlich. Ebenso, wie ihr Wunsch, sich von mir Bier in grossen Plastiktüten zu bringen. Lina hatte immer gern Bier getrunken und dies während unserer gemeinsamen Ferien öffentlich getan. Wie sie den Konsum von Alkohol vor Gott rechtfertigte, weiss ich nicht. Auf jeden Fall habe ich der tamilischen Pflegerin an der Pforte immer gesagt, in den Plastiktüten befände sich Coca Cola. Aber dann hörte ich, dass auch Coca Cola eine Sünde ist, vor Gott, wenn auch nicht so eine grosse (Sünde) wie das Bier, aber ganz bestimmt eine kleine, verruchte. So habe ich an der Pforte dann gesagt, in den Plastiktüten sei Limonade.

Lina hat immer schon laut ausgerufen, kaum dass ich die Türe zu ihrem Zimmer hinter mir schloss: „Her mit dem Bier!“ Ich bin dann sofort zu ihrem Bett gestürzt, habe ihr das Bier in die Hand gedrückt, wobei ich ihre Hand mit der meinen umschloss. Ich habe einen Trinkhalm in die Flasche hinein gesteckt und ihr ihn zu den Lippen geführt. Lina hat sich mit einem solchen Ruck im Bett aufgesetzt, dass ich immer Schiss hatte, die Plastikschläuche mit dem Sauerstoff könnten ihr aus den Nasenlöchern rutschen. So gierig war sie auf das Bier, so heftig sog sie am Halm!

Einmal habe ich mich entschieden, mit der Wahrheit herauszurücken und der tamilischen Pflegerin im Gang gerade aus ins Gesicht gesagt, dass sich in meiner Plastiktüte keine Limonade befindet. Ebensowenig wie Coca Cola. Sondern dunkles, nahrhaftes Bier, Marke Feldschlösschen, selbstverständlich Alkoholfreies! Werde ich nun wohl abgeführt, weil ich einem sterbenden Menschen etwas anderes als Tee einflösse, ging es mir kurz durch den Kopf. Umso erstaunter stellte ich dann fest, dass sich die tamilische Pflegerin aus meinem Geständnis überhaupt nichts machte. Sie warf nur einen despektierlichen Blick auf die Flasche und gähnte.

Als ich eines Tages wie üblich mit meiner Plastiktüte in Linas Zimmer anrückte, traf ich sie in aufgelöstem Zustand. Ich hatte sie immer nur als Meisterin erlebt, voller positiver Kraft und Fröhlichkeit, weswegen ich nun erschrak. Sie hielt sich die Hände vor den Kopf geschlagen, wimmerte und heulte laut: „Jeanny, was hast du getan, was hast bloss du getan?! Alle wissen sie es, alle! Welch ein Unglück, oh, nein, oh nein!“ – „Wovon sprichst du?“, fragte ich verdattert. Ich wollte gerade den Büchsenöffner aus ihrem Bibelfach herausholen, da schrie Lina auf: „Weg mit dem Bier! Sie! Sie alle! Halten mich für eine Hexe, eine Teufelin! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mir das Bier heimlich schmuggeln?! So, dass es niemand sieht?! Ich hätte wissen müssen, dass es nicht gut kommt! Ach, was soll ich bloss tun! Was soll ich bloss?!“ Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Ich zitterte ebenfalls. „Aber Linchen, dieses Bier, Linchen … höre mir zu  …. dieses Bier ist nicht eines, das dich … Linchen! … besoffen macht, anrüchig macht … es ist … wenn man es sich genau überlegt … genau wie eine Limonade!“


Sie war Siebenundneunzig und am Rande ihrer physischen Kräfte. Doch das allein war es nicht. Auf einmal erfuhr ich, dass ihr, jetzt, am Ende ihres Lebens eine Art Geduldfaden riss. Sie selbst hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die Wochenenden zeitlebens lieber mit Bekannten und Freunden verbrachte. Lieber kletterte sie auf einen Berg oder feierte bei ausgelassenen Taufen oder Heiraten ferner Bekannten mit, statt die Sonntage im „Kreis der Schwestern“ zu verbringen. Die Schwestern, alle mittlerweile zwischen Achtzig und Neunzig Jahre alt, hatten von Linas Bierkonsum erfahren, aber das Mobbing dauerte schon viel länger. Lina war nie eine Frömmlerin gewesen!


Aufgeweckt, unkonventionell und eine exzellente Operationsschwester, hatte man sie während des zweiten Weltkrieges in ein Spital an die Schweizer Grenze versetzt, wo sie, als knapp Zwanzigjährige, wochenlang damit beschäftigt war, den Soldaten Splitter aus den Augen zu entfernen. Immer wieder fungierte sie als Schlichterin zwischen Polen und Deutschen. Diese sollen noch mit Mullbinden um den Kopf auf einander losgegangen sein und sich ihrerseits bei Lina bedankt haben, indem sie ihr geschwellte Kartoffeln ins Bett legten!

Später war sie an einem grossen Bezirksspital die rechte Hand eines bekannten Professors, der offen für die Anbindung der Schweiz ans Deutsche Reich schwärmte. Als Lina neunzehnhundertdreiundvierzig eines Morgens zur Arbeit erschien, entdeckte sie über dem Eingang des Operationssaals ein riesiges Adolf-Hitler-Bild und wich zurück. „Meyer, ich betrete den OPs nicht eher, als dass du das Bild des Verbrechers entfernt hast!“ Der Professor fühlte sich vor den Kopf gestossen, von einer Frau, erst noch, einer Frau, die er heimlich für ihre fachlichen Kompetenzen stark bewunderte, so angefahren zu werden. Trotzdem liess er sich von Lina am Arm in den Flur führen. Eine Reihe neugieriger Assistenten und Pfleger bildete einen Kreis um das streitende Paar. Immer wieder zeigte Lina mit dem Finger auf das Bild und drohte: „Nehmen Sie diesen Hitler, diesen Verbrecher hier weg, sonst operiere ich nicht!“ Worauf der Professor plötzlich die Nerven verlor: „Sie werden schneller entlassen sein, als Sie glauben, Frau Kollege! Leute, entfernt diesen Affen für immer aus meinem Gesichtsfeld!“


Anfang der Sechziger Jahre war für Lina ein entscheidendes Jahr, denn beinahe wäre sie dem Ruf der Freiheit gefolgt, der Arbeit zuliebe. Sie war von Doktor Kaufmann gebeten worden, mit ihm, eine selbständige Augenpraxis zu eröffnen. Lina schätzte ihren langjährigen Vorgesetzten im Spital St. Gallen sehr, und sie war bereit, für ihre neue Aufgabe mit dem Orden zu brechen. Leider kam es nicht dazu. Unmittelbar bevor das Abenteuer beginnen konnte, raste Doktor Kaufmann nach einem nächtlichen Patientenbesuch mit seinem Auto gegen einen Brückenpfeiler. Er war sofort tot. Zwei Nächte und zwei Tage wartete Lina unterdessen in den frisch eingerichteten Praxisräumen zwischen ungebrauchten Gazen, Messerchen und Verbänden auf einem Hocker auf Doktor Kaufmann respektive eine Stimme, die ihr sagte, was sie nun tun sollte. War sie vielleicht fähig, die Praxis alleine zu führen? Dann wurde sie von der Oberin zurückgerufen und als Diakonisse in einem Schnellverfahren neu eingesegnet.


Zum zweitenmal war Linas Zukunft als Diakonisse besiegelt. Ihre Heimstätte war nun für die restlichen fünfzig Jahre Zimmer Siebenundvierzig im Diakonissenhaus Bern, gegenüber dem Weltispital, das wieder zu ihrem Arbeitsort wurde. Dort, in der Augenklinik traf sie Anfang der Siebzigerjahre auf meine Mutter, die dort ihre ersten Arbeitserfahrungen als Operationsschwester sammelte. Neunzehnhundertdreiundsiebzig brachte meine Mutter Valentina in der Kinderwiege mit zur Arbeit, zog sich aber bald darauf von Beruf zurück. Lina aber hatte einen Narren an uns gefressen, an mir, dem Finöggeli,  meinem Vater Hannes, dem Aufbrausenden, meiner sanften Mutter und Valentina, der Ehrgeizigen. Ja, später machte sie sogar mit Valentinas Stöpseln Lillie und Faun Bekanntschaft.


Im letzten Jahr hat Linas robuste Gesundheit plötzlich stark nachgelassen, und sie erfand allerlei Ausreden, um nicht im Rollstuhl in den Garten gefahren werden zu müssen. Lieber sass sie mit einer grossen Lupe über einem Puzzle oder machte Kreuzworträtsel. „Such mir den Säbel raus! Ich bin an der Schlacht von Trafalgar“, rief sie einmal zur Begrüssung, als ich mit einer Plastiktüte Limonade (ich brachte jetzt wieder Limonade mit) ins Zimmer stürzte. Oder: „Ein Playboy mit Fünf Buchstaben, weisst du, was das ist, Jeanny, ein Playboy mit S …. chs? Was soll das überhaupt sein!?“, Gerne stöberte ich mit Lina in den alten Fotoalben, die winzige schwarzweiss gezackte Fotografien von ihr und ihrer Familie von Anfang letztem Jahrhundert zeigten. Ihr Elternhaus mit dem Pfeife rauchenden Vater auf der Bank, zwei Ziegen und die einzelne Kuh, der Stolz des Vaters, im Garten. Vier Schwestern und drei Brüder hat Lina gehabt, sie alle sind früh verstorben, aber auf den Fotografien posieren sie für eine gespenstisch faszinierende Ewigkeit. Einmal haben wir eine gelbstichige Foto von unseren Ferien an der slowakischen Grenze inspiziert. Sie zeigte meinen energisch drein blickenden Vater in der schwarzen Laufhose des Vereins Allblacks, meine entrückte blonde Mutter, die schöne schmollende Valentina, ebenfalls in der schwarzen Vereinslaufhose. Abgerundet werden die drei von einer übers ganze Gesicht strahlende Lina auf der einen Seite und mir auf der andern Seite, von der Kamera leicht abgeschnitten. Lina fuhr mit der Lupe an die Fotografie heran und stiess aus: „Was haben dein Vater und deine Schwester denn da für Fetzen am Leibe?“ – „Aber weisst, du, die sind doch damals, in diesem heissesten Sommer des Jahrzehnts immer wie verteufelt, zweimal am Tag, durch die Kornfelder gelaufen, Dad und Tina. Morgens um Zehn, wenn die Sonne schon auf die kilometerweit sich wölbenden Felder drückte, und alles in eine Dunstglocke tauchte, weisst du noch. Und dann wieder abends, wenn der Himmel aufriss und Millionen von Mückenschwärmen im Kegel des blutroten Sonnenuntergangs tanzten.“ – „Richtig. Überall hatte es diese Mücken, vor allem im Stein des alten Hauses und im Zwischenraum der doppelten Fensterscheiben, die so dünn waren, dass sie beim geringsten Luftstoss erzitterten. Du hast die Mückenstiche ständig aufgekratzt. Nächtelang bist du auf Mückenjagd gegangen, das kleine Summsumm der Mücken liess dich nicht schlafen und du hast oft geweint und die Schlafenden rund um dich geweckt ….“ – „Ich?“ – „Ja du! Tagsüber bist du am liebsten allein gewesen, doch im Dunkeln suchtest du Anschluss und wurdest zu einem Nachtmensch.“ Es klopfte an die Tür. Didi mit einem Buch in der Hand, auf dem stand: ‚Was uns im Jenseits erwartet‘ beugte sich zu Lina hinab und umarmte sie. „Darf ich vorstellen: das ist Jeanny, ein zartes zu zartes Pflänzchen und die Tochter von Ursina, der grossartigsten Krankenschwester, die ich im Ops je anleiten durfte. Und dies hier ist Didi, er ist ein Medium von den Lichtflüsterern und meine Lichtgestalt. Er wird mir helfen Entscheidungen zu treffen….“ Ich gab Didi die Hand, und  wollte mich schnell auf die Socken machen, aber Lina hielt mich zurück: „Du kannst ruhig hören, was Didi und ich zu besprechen haben. Morgen Sonntag bringt  mich Didi durch den Hauswarts-Eingang heimlich von hier fort zu einem Mitglied der Lichtflüsterern im Thurgauischen ….“ – „Das heisst, du haust ab und kommst nicht wieder zurück?“ – „Wenn alles gut klappt, dann nicht. Es ist wie eine richtige Entführung, verstehst du …“ Lina bebte vor Aufregung. „Und deine Medikamente, dein Rollstuhl, dein Sauerstoff …dein Herz schafft doch noch knapp zehn Prozent? “ – „Das kommt alles mit!“ – „Aber was sagt der da oben dazu?“ Ich liess durchsickern, dass ich an der Aktion meine Zweifel hatte. „Er ist mit allem einverstanden, und versteht, dass ich nicht hier sterben will. Didi hat zwischen den himmlischen Lichtflüsteren und Gott vermittelt. Ich komme in den hellsten und obersten Himmel, dort habe ich meine goldene Kutsche, mein Haus und einen paradiesischen Garten …“ Ich war etwas enttäuscht von diesem komischen, schleimigen Didi, aber als ich sah mit welcher Hingebung Lina ihn zum Abschied umarmte, war mir vieles klarer.


Das Vorhaben fiel dann aber ins Wasser. Linas Gesundheitszustand hatte sich von Samstagnacht auf Sonntag verschlechtert. Röchelnd und verkniffen lag sie in ihrem Bett. Auch meine mitgebrachte Coca Cola konnte sie nicht aufheitern.

Gegen Nachmittag klopfte es an der Tür und die Oberin steckte den Kopf herein. „Ah da stecken Sie Schwester Lina. Wir haben Sie heute morgen bei der Andacht vermisst ….Sie werden doch am Abend dabei sein?“ – „Guten Morgen Schwester Hanni, was sagt Sie?“ Linas Hand wanderte zum Hörgerät hinter dem linken Ohr. „Ich kann Sie leider nur schlecht verstehen, Schwester. Leider habe ich mein Hörgerät verlegt. Darf ich Ihnen vorstellen, dies ist Jeanne, das feine, allzu feine Töchterchen von der grossen Ursina Stürmchen, mit der ich in den Siebzigern drüben in der Augenklinik unter exzellenten Bedingungen operierte …“ Die Oberin lächelte schwach und gab mir die Hand, dabei warf sie auch einen Blick auf Linas Hörgerät. „Das Hörgerät befindet sich in Ihrem Ohr, Schwester Lina!“ – „Was sagt Sie?“ Lina schaute mich mit durchbohrenden Blick an. „Dass du das Hörgerät nicht verlegt, sondern auf dem Kopf hast.“ – „Ach so ja, das stimmt, nur höre ich eben nichts, Schwester Hanni! Können Sie sich bitte nocheinmal wieder holen?“ – „Ich habe gesagt, dass wir Sie bei der Morgenandacht vermisst haben. Wir können doch heute abend mit Ihnen rechnen?“ Lina zerrte sich das Hörgerät hinter dem Ohr hervor und versorgte es in ihrem Bibelfach. „So“, sagte sie bockig. „Jetzt könnt Ihr mit mir reden.“ Nachdem die Oberin verschwunden war, fiel Lina wieder in ihren grüblerischen Stumpfsinn zurück. Mir war klar, dass ihr die missratene Flucht aus dem Diakonissenhaus zusetzte. Sie wollte von diesem Ort hier fort, war aber zu krank für einen Transport. Es war zu spät für einen Ausbruch, den sie sich insgeheim ein Leben lang herbei gesehnt hatte. Und an dieser Tatsache kaute sie und kaute sie, während sie an ihrer Coca Cola nippte!


Hallo Linchen, hättest du heute Lust, mit mir auf einen Sprung in den Park? Wir könnten ja für einmal den Rollstuhl nehmen, was meinst du?“ Donnerwetter. Lina wollte natürlich nicht mit dem Rollstuhl in den Park. Lieber über ihre Leiche als in einen Rollstuhl. In diesem Vorsatz blieb Lina hart. „Nein, liebes Finöggeli. Ich bin müde und bleibe im Bett.“


Wie Lina gestorben ist, weiss ich nicht. Soviel ich gehört habe, ist sie vor ihrem Tod noch auf die Dachterrasse, weil sie unbedingt die Solarlampe aus Ton, die ich ihr zum fünfundneunzigsten Geburtstag geschenkt habe, ans Licht stellen wollte. In den Wintermonaten hatte das LED-Licht neben ihrem Bett zuwenig leuchten können. Jetzt, im Mai würde es möglich sein, das Tageslicht zu sammeln. Lina ging ohne Bock und ohne Rollator und ohne Sauerstoffschläuche, nur in Nylonsocken und Rock bekleidet aufs Dach. Sie hat für ihre Lampe den hellsten Lichtkegel gesucht und ist dann, als sie wieder zum Lift gehen wollte, über die Terassenstufe gestürzt. Lina hatte bereits als junges Mädchen wegen ihres leichten Buckels rechts beim Gehen Schieflage gehabt. Diese Schieflage hatte sich in den letzten Jahren noch verstärkt. Bei ihrem Sturz hatte sich Lina das Schlüsselbein gebrochen, und so blieb sie zwischen Terrasse und Haus die ganze Nacht liegen. Als man am nächsten Morgen feststellte, dass sie wieder beim Appell fehlte, fing es in der Gerüchteküche der Schwestern an zu brodeln. Lina war nun doch von einer obskuren Sekte entführt worden! Ein junger Mann hatte sie zum Fremdgehen angestiftet! In ihren kranken Tagen war aus der einstmals solidesten, stärksten und bei weitem fröhlichsten Schwester Lina eine erbärmliche und verwirrte Sünderin geworden, die die Offenbarung Jesu Christi gegen einen ominösen spirituellen Spleen eingetauscht hatte.


Nachtschwester Kernen wäre beinahe über sie gestolpert. „Schwester Lina, können Sie mich hören!“, fragte sie. „Ich habe nämlich gehört, dass Sie nicht nur ein ominöses Hörgerät haben, sondern auch ominöse Ohren.“ Lina hat darauf nichts geantwortet.  Aber ist dies wichtig? Gehört hat sie ja doch alles mit dem Herzen.

(2012/19)

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