Diary and #pwME, 9.10.20

Du sagst mir, liebe Freundin und ME-Betroffene, dass du dir Sorgen machst, weil ich, statt auf meine physischen Grenzen zu achten, spazieren gehe und das „Weite suche“, um so, die psychische Not besser zu bekämpfen/bearbeiten. Es wäre ja blöd, wenn ich dann das Bett nur noch verlassen kann, um auf das Klo zu gehen oder überhaupt nicht mehr, nur weil ich einmal zuviel meinem Trieb folgte.

Schaue ich zurück auf meine 25 Jahre Myalgische Encephalomyelitis, davon etwa 8 mild, kann ich Folgendes sagen: man kann 100mal eine physische, emotionale oder mentale Grenzüberschreitung machen (und damit rede ich von mehr oder weniger normalen Aktivitäten), doch 1mal von 100mal zieht diese Aktivität/ein Erlebnis irreversiblen Schaden nach sich. Ich weiss von mir, dass ich mindestens 4 solche irreversible Schäden erlebt habe, jedesmal waren es wahnsinnige innere Erregungszustände über Wochen, in denen ich den strikten, disziplinierten, chronisch von sozialen Erlebnissen abgetrennten Alltag nicht mehr aufrecht erhalten konnte.

In diesen Zuständen musste ich aus meinem Rentner-Wolken-Zimmer austreten und mich in die psychiatrische Institution einliefern, wo ich so masslos über die physisch tolerierbare Grenze ging, dass ich anschliessend nach Wochen, zurück in meinem Isolations-Dasein, eine irreversible Einbusse hatte.
Immer waren es diese komplett irren physischen/psychischen/geistigen Erregungszustände über Wochen oder Monate, die mich zwangen, die Routine und Disziplin der erzwungenen Immobilität und somit die Stabilisation der körperlichen Krankheit, aufzugeben, die mich zwangen, auszubrechen!

Man kann nicht 20 Jahre und mehr auf der Bremse leben. Es kommt immer-immer irgendwann zu einer Situation, in der man die Gefängnismauern von ME zerstören muss oder sie von Aussen zerstört werden: dies könnte konstruktiv sein, es könnte Leben, Veränderung, Aufbruch, Bewegung sein! Es könnte Gesundheit sein!
Aber mit Myalgischer Encephalomyelitis ist dies nur Degeneration und auf Dauer irreversible Schäden und Bettlägerigkeit oder eben: wie du sagst: Pflegestufe.

Ich wüsste nicht, wie ich mich hätte schonen können, weiter abkapseln und schonen nach Innen!!! Und ich muss dir sagen: ich sehe nicht, wie ich mich sogenannt provisiorisch hätte vorschonen können und weiter provisorisch vorschonen könnte. Ich habe schon so gut wie die meisten Jahre nach Aussen hin ungelebt gelassen, ich liess mich nicht mit der Welt, da draussen ein, weil ich wusste, er würde dadurch mit grosser Wahrscheinlichkeit nur Schwierigkeiten geben und somit eben eine Progressivität der Beschwerden.

Aber raus bin ich immer gegangen, raus auf einen Spaziergang.  Wenn du mir jetzt sagst, dass das gefährlich ist, in meinem Zustand und ohne Rollstuhl noch zu tun, nur, weil es mir in dem Moment das Gefühl von Freiheit gibt; dann fühle ich diese  verzweifelte Absorpiertheit, die mich oft fast versteinert:

Meinst du denn, ich glaube, dass es mir besser gehen kann, physisch und sich die postneuroimmune Sickness verkürzt oder abschwächt, wenn ich mich um die letzten Dinge bringe, die mir so etwas wie Freude bereiten?
Ich wünschte ja, es wäre so! Aber so ist es nicht! Und so sehr ich daran glaube, dass Körper und Seele zwei verschiedene Dinge sind, genauso sehr glaube ich, dass es ab einem bestimmten Grad an psychischer Hoffnungslosigkeit keine physische Stabilisation mehr geben kann.

Ja, ich würde meine Spaziergänge einstellen, würde mir Mahlzeitendienst besorgen, eine Haushälterin, die bei mir putzt und wäscht, ich würde ein Jahr lang konsequent im Bett liegen 24 Stunden, wenn ich wüsste, dass es nach Ablauf dieses Jahres dann eine Therapie gibt, die mich heilt und aus der Krankheit befreit! Aber es ist keine Therapie in Sicht …. weit und breit nicht …

Ich weiss nicht, was die Überlebensstrategien der andern sind, die mehr als 10 Jahre hausgebunden oder mehr: bettgefesselt und also pflegebdürftig sind über Jahre. Was ist ihre Hoffnung? Sie sind nicht auf den Foren vertreten (verständlicherweise), sie sind verloren gegangen, sie müssen implodiert sein, auch ihre Psyche muss implodiert sein, ihre Persönlichkeit muss sich aufgelöst haben ….

Dann, Liebe: haben sich diese Muskelschwächen und Neuropathien usw. durch konsequentes Schonen einmal gebessert? Nie!
Wer weiss, Liebe, was die Mechanismen sind, in meinem Fäll, dass ich keine Regenerationsfähigkeit mehr besitze, nachdem ich jahrelang ein stabiles Plateau halten konnten, eine Zeit, in der ich meinem Platonischen ununterbrochen die Kappe vorheulte, wie sehr mir das Verliebtsein, der Rausch, die Auseinandersetzung, das Gesehenwerden fehlte!

Ich habe immer daran geglaubt, dass das Empfinden von Freude und Lust ein Gegenmittel gegen physische Beschwerden ist. Was ist meine Freude und meine Lust, wenn ich innerlich gestorben bin? Naja, ich sagte ja in meinem Romankapitel, Curriculum Vituosus, man müsste die Protagonistin eine Weile ins Koma versetzen, vielleicht würden die pathophysiologischen Prozesse von ME dadurch gestoppt werden ….

Edge of Ironie

 

 

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