Diary, 8.6.

Winterabend im Juni. So endgültig still, dass ich das Ticken der alten Kuckucksuhr höre im Nacken meines Grossvaters. Um Vierzehnuhr, um sechzehn Uhr, um Neunzehnuhr ging die Grossmutter in die Küche und setzte Wasser auf, stellte sechs verschnörkelte Kaffeetässchen auf das Taburett und gab in jedes ein Löffelchen Instant-Pulver rein. Mein Vater, der  streng arbeitende Ingenieur, im Blumensessel, hinuntergerutscht, schlief schon (um jede dieser Uhrzeit) oder kittelte feinnervig am Grossvater rum, weil er seine Turnübungen nicht machte, meine Mutter, die Stoische, sass angespannt da und kritisiertegelegentlich die Grossmutter im umgänglichen Ton, so wie das Töchter bei ihren Müttern so an sich haben. Jede Stunde hallten die Kirchenglocken vom angrenzenden Friedhof zu uns rüber. Ich trat auf den Balkon und schaute zu den Blumen geschmückten Grabsteinen, Menschen gingen mit Kerzen oder Giesskannen zwischen den Gräbern umher. Und dann war es auch schon so weit; wir begruben zuerst den Grossvater, und dann mehrere Jahre später auch die Grossmutter. Diese zwei alten, kugelrunden kleinen Menschlein, sie mit der Schürze, er mit der Zipfelmütze, die gesagt hatten, jahrzehntelang: wir gehen nur gemeinsam, keiner von uns geht allein. Meine Eltern, die Elastischen, waren am Aufräumen, räumten die Stube mit den Blumensesseln, die schnörkeligen Kaffeetassen, schwere Teppiche, das Jesus-Bild. Alles in einem halben Tag. Was willst du? fragten sie mich, willst du etwas? Die alte Kuckucksuhr? Ich sagte nein.

Heute bist du gekommen, und wir haben gemeinsam meine Wohnung geputzt, Staub, Essensresten, alles, was sich wochenlang angesammelt hat. Die Betten abgezogen und gewaschen. Wie in all den Jahren hast du ein paar Gipfel; ungesunde Kekse und sonst ein Haufen Fertigprodukte aus dem Aperto mitgebracht, unterwegs. Während ich auf dem Molto lag, habe ich mit den Ohren gelauscht, wie gründlich du den Staubsauger in die Ritzen fahren lässt. Vor fünfzehn Jahren habe ich mir vor dem Minzentee bei dir den Kaugummi aus dem Mund genommen und auf die Tischplatte geklebt. Du hast ein Papierchen gepackt, den Kaugummi damit aufgelesen, ohne ihn zu berühren und ihn unmittelbar entsorgt. Immer. Mindestens vier mal hast du dir zwischen dem Staubsaugen einen gebaut. Ich hörte dein jahrealtes Husten und Krächzen, deine belustigten „Achs“, wenn du wieder etwas gefunden hast in meinem Dreck.
Schon mitten in deinem Dasein musste ich wieder weinen, dich anschmeissen, wie in all den letzten Jahren, mit meinen Tränen. Ich danke dir, doch du bist wie ein Saugnapf meiner Traurigkeit—- wir konnten uns verstehen, ich dich nicht nehmen. Und wieder nach all den Jahren, wer macht meinen Dreck? Du. Wenn das nicht zum Weinen ist.

Ich verstehe, dass du ein Igel bist, ein Gürteltier, das die Realität nur noch unter THC (Cannabis) soundsoviel bretterharten Rolle schlafen. Die Wohnung, in die du nach dem traurigen Besuch zurückkehrst, habe ich dir hinterlassen, sonst würdest du immer noch in deinem Klapperstudio wohnen, wo der Küchenboden wackelte, die Drähte zum Anbinden der Lampe: 14 Jahre unbenutzt … oh wir zwei, wie schlecht wir es verstanden, zu leben … doch: was habe ich dir wirklich geschenkt, ausser meiner Anmassung  …?

…nur den Anblick meines Popo ….

Manchmal höre ich den Zug,  wie er über die Brücke rollt, ein donnernes Kompartement ums andere. Es ist das einzige Geräusch, das diese endgültige Stille durchbricht. In diese Stille hinein sagt er meinen Namen nicht mehr: Marion. Gutnacht. Wie kostbar, wenn jemand deinen Namen sagt, und du hörst ihn in dir. Was für kostbare zwei Sommer das waren! Henri hat meinen Namen auch gesagt. Marion! hat er gesagt. Das war vor zwanzig Jahren. Und es klang wie ein Jubelruf, so kraftvoll, so fröhlich. Er, meine Liebe, dessen Ex-Liebe ich bin, hat mich anders gerufen: eher fragend, kindlich, zerbrechlich ….ich hab ihm das beigebracht, am Anfang, beim Whatsappen: dass man sagen kann zum andern: Du! Und einen Eingang finden …

Oh kaltes Schweigen.

Wer wie den andern beim Namen nennt. Moment, ich versuche mich zu erinnern: meine Grosseltern haben sich nur mit Kosenamen angesprochen, neckisch, zärtlich, manchmal auch gewohnheitsmässig …. du Maria, mis Wäggeli, hol mir die Socken, sagte Grosvati zum Grosi. Du Fritzli, mis Schnäbeli, hol dir die Socken selbst ….Grosi zum Grossvati.

Mein Eltern haben sich ihre Namen gesagt, eher neutral, aber immer respektvoll, manchmal ungeduldig. Aber sicher haben sie sich auch im Namen geschätzelet, zu Zeiten, als es mich noch nicht gab.

Einmal, als es mich dann gab und ich schon in der Pubertät war, wusste ich nicht mehr, wie meinen Vater namen, einmal wusste ich nicht mehr, wie meine Mutter namen. Ich nannte sie nicht mehr Mami und  Papi … konnte mich aber auch nicht daran gewöhnen, sie bei ihren Namen zu nennen ….

Grosi. Sagte ich zu Grosi. Leicht und zutraulich. Grosi war so zu mir: leicht und zutraulich. Und tätschelte mir die Hand.

Maarioon! Ein Jubelruf, ein Weckruf! So Henri zu mir, vor zwanzig Jahren. Aber ich zu ihm? Ich nannte ihn Henri und träumte davon, seinen besten Freund, Michael zu rufen. Michael bekam davon Wind, wir trafen uns nachts. Er sagte meinen Namen kurz und kalt.

Und so geht es weiter ….

Wir sprechen einander an, bis wir nicht mehr können. Mit manchen geht das ein Leben lang gut, andere verschlucken unseren Namen  schon nach kurzer Zeit oder speien ihn aus. Und einmal wird unser Name von niemandem mehr genannt. Wir werden nicht mehr genamt.

In was hätte ich meine Liebe für ihn übersetzen müssen? In was?! In welche Form hätte ich sie legen müssen? Welche Hände, welche Sprache, welche Augen hätten ich reden müssen?

Ich hab ihn auch genamt, oh, ja. Oft verdrehte er ein bisschen darüber die Augen.

Hab ich je ein Herz in ihm gehabt?

Und einem andern habe ich es gestohlen!

Wenn die Kuckucksuhr tickte im Nacken meines Grossvaters, dachte ich immer ans Leben. Das Leben das irgendwo auf mich wartet, und das ich nicht verpassen darf. Ich sah in meinen Eltern, die sich manchmal eher schlecht liebten, ich sah in meinen Grosseltern, die nach der Pension ihren Instant-Kaffee süffelten und Carreisen ins Appenzell machten, in meinen Jugendjahren, auch Verpasste ….

nachts im Gästezimmer meiner Grosseltern machte ich kein Auge zu. Jede Stunde hallte die Kirchenglocke an meinem Ohr. Es war der schönste Glockenton, den ich kenne: warm, sonor, moosig. Aber sobald die zweite Glocke mitschwang, nachmittags, wenn ich auf den Balkon trat, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder jemand heiratete. Oder jemand wurde beerdigt.

In Gedanken beerdigte ich niemals diese Unfassbarkeit. Welche? Einfach diese! Stand ich auf dem Balkon meiner Grosseltern, weil die Hitze schläfrig machte und vom Instant-Kaffee mir schlecht wurde, die Gespräche sich im Plauderton verloren (was ist besser; das Marmorcake vom Coop oder vom Migros? Oh Grosi!),  sah ich zu diesem Friedhof rüber. Menschen gingen durch die Gräber, ihre Gesichter konnte ich auf die Distanz nicht erkennen. Mir war mulmig.

Dann starb Grossvater, und Grossmutter weinte, bis sich ihre roten, samtigen Bäcklein auflösten.

Aber eines schönes Tages sass ich mit ihr auf dem Balkon und sie sagte: „Weisst du, Marion, ich weiss nicht, ob ich ihn wirklich geliebt habe …“

Der schäkerende Ton war aus ihrer Stimme gewichen. Grosi war etwa 89jährig, als sie das zu mir sagte. Ihr Weinen hörte auf. Aber viele Jahre blieben ihr nicht mehr.

 


junger Schwan und Schwanenpärchen am Bielersee, Sommer 2019

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