Briefe eines jungen Frisörengehirns an den Psy. (2000)

  1. 8. 2000

 

Sehr geehrter Herr Doktor

 

Probleme stehen an. Ich will Sie daher wieder „ehren“.

Ich stehe also mit grösstmöglich aufgesperrtem Maul im Badezimmer und richte die Taschenlampe auf meine vereiterten Mandeln. Seit einem Monat versuche ich vergeblich den leuchtenden Fliegenpilz mit dem schönen Frauennamen „Angina“ mittels  einer Antibiose aus der Sprühdose, Schabern und Stengeln meiner Lieblingsglacé Pralinato Frisco zu vertreiben!

Wären Sie bereit, Herr Doktor, mir ein Krankenzeugnis, das mir Hausarzt Schlappbach liebenswürdigerweise bereits für zwei Wochen ausgestellt hat, „bis auf Weiteres“ zu verlängern? Ich weiss, die Frage kommt in einem blöden Moment, wo ich doch erst vor einer Woche den einjährigen Zusatzkurs zur Arztsekretärin an der Feusischule begonnen habe. Ich meine, ich, Sie, meine nahe Verwandtschaft, die ganze Umgebung ist glücklich über diese geniale praktische Wendung, dass ich meine, vor vier Jahren absolvierte Ausbildung zur fixfertigen Sekretärin nun doch noch verbinden kann mit einer faszinierenden Materie! (Terminologie statt Buchhaltung! Verbandskunde statt Zahlen!) Im Prinzip ist ja auch alles gut gegangen bis und mit Vorstellungsrunde, als sich zweiundzwanzig, teilweise etwas ältere, beleibtere, oft méchierte Mädchen, der Reihe nach vorstellten:

„Ich heisse Soundso. Bin dort und dort geboren. Habe so und so viele Kinder. Habe da und dort gearbeitet …“, sagte, zum Beispiel, die erste Sekretärin, ehe sie den Ball an die zweite Sekretärin weitergab, die direkt neben ihr sass. Diese sagte: „Ich heisse Soundso. Komme von dort und dort. Bin das und das … „, usw. , Dann hat auch diese Sekretärin den Ball weiter gegeben an die nächste Sekretärin in der Reihe. (denn so sassen wir, in Reihen!) „Ich bin … ich komme … ich war … ich werde!“, sagte diese Sekretärin. Aber so souverän, so reibungslos in Klang und Ton, wie am Schnürchen, so dass ich heimlich kaltblütig vor Verbewunderung dachte: ‚Die ist bereits eine Gestandene in ihrem Fach, durch und durch!’

Also hatten sich zwanzig … einundzwanzig Sekretärinnen durch und durch, brilliante Telefonistinnenstimmen, Automatensprecherinnen, mit Namen, Wohnort, Zivilstatus, Alter, ehemaligen Arbeitsplätzen, Scheidungen usw. vorgestellt … mit allem, was dazugehört zur perfekten Vorstellung! … fast wie im Chor! … als die Reihe plötzlich an mir war.  Und ich  unerhört … Schiss bekam! Das Fieber stieg mir in den Kopf, der glühende Hals schmerzte mich. Ich angelte nach einem Satz, einem Vorstellungssatz, schabte daran, verlor ihn, grübelte an meinem gesprenkelten Rachen und der Frage, wie lange das wohl noch dauern würde, herum. Ich vergass auch das, als jemand aus der Ferne rief: „Wie heissen Sie?“ Und von noch weiter weg eine Stimme fremd und nuschelnd sagte: „Angina!“

(2000, The Bordi-Collection)
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