Aus meinem Testimony

Ich liege rücklings auf dem Floss und visualisiere die Sterne, neckische kleine Stiche, die sich langsam zu Myriaden von Pünktchen formieren. Ich denke ans Verschwinden und die Verschwundenen. Ist mir irgendwann mal im Leben etwas verschwunden? Erstaunlich, mir fallen nur die Socken ein, die Scheren, die Kaffeelöffel und die Schlüssel. Einmal hatten wir ein Amselnest, in der Dachrinne über meinem Kinderzimmer, etwa eine Woche lang, ja. Aber dann war es verschwunden. Mein Schulfahrrad, die pinkige Julia, war eines morgens verschwunden, dann ging ich zu Fuss mit dem schweren Geschichtsbuch im Rucksack zur Schule, doch, später, als wir Geschichtsstunde hatten, war mein Geschichtsbuch verschwunden. Mehrere meiner Halstücher verschwanden. Ich weiss nicht, ob es der Wind war, der sie mir entriss, als ich auf Jakobli, meinem zweiten Schulfahrrad zum Schulhaus düste, frühmorgens. Die Kälte brannte auf der Haut, es war noch halb dunkel, ich sah, dass mein hinteres Velolicht verschwunden war, ging zum Kaffeeautomaten in der Aula, beobachtete, wie ein Fünfzigrappenstück im Schlitz verschwand, worauf ich schnell den wässrigen Kaffee kippte. Ich musste mir ein neues Geschichtsbuch anschaffen, für Fünfzig Franken, und das haben wir dann wieder da aufgeklappt, wo wir stehen geblieben waren, in der letzten Lektion. Das war eine Stelle mit viel Kriegsmaterial, vielen Schlachten, mit Preussen, Napoleon und dem Versailler Vertrag. Aber ich erinnere mich nicht, dass wir in diesem Buch jemals die verschwundenen Menschen durchgenommen haben, die auf den Todesmärschen verschwunden sind oder auf der Flucht über die Pyrenäen, die verschwundenen Städte und Dörfer des Sudetenlandes mit ihren verschwundenen Kindern, die etwa Fünfunddreissig Tausend Desaparecidos, die zwischen Neunzehnhundertsechzig und Neunzehnhundertneunzig verschwunden sind, die verschwundenen Massengräber von Srebrenica, das Los der verschwundenen Indigenen in Nordamerika oder die Verschwundenen des Algerienkriegs. All das und viel mehr haben wir nicht durchgenommen, immer nur geschichtliche Fakten, nie die Menschen. Vielleicht habe ich darum im Geschichtsunterricht auch immer geschlafen!?
(1.7.22)

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