MJS: Guten Morgen Marion. Du hast endlich deinen Roman „Glaubenssatz“ beim Loser-Verlag herausgebracht. Wie fühlst du dich?
Marion: Ich bin entsetzlich froh darüber. Ich hätte mich um ein Haar umgebracht vor Langeweile!
MJS: Kommen wir zu deinem Buch. Es gibt darin zwei Teile: ein Teil der die freche Göre Jeanne zeigt, wie sie ohne soziales Gewissen, aufmüpferisch frei in den Tag lebt sowie einen Teil, der die gereifte, ehmalige Göre Jeanne als Frau zeigt, die eine Krankheit hat und reichlich im Selbstmitleid badet. Wie gehen diese Teile respektive Figuren zusammen?
Marion: Diese Figuren gehen nicht zusammen. Etwa in der Mitte der Geschichte habe ich den Bruch bemerkt, und ich spielte mit dem Gedanken, nur die Geschichte des zweiten Teils zu erzählen. Wenn ich den ersten Teil weggelassen hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen, eine einheitliche Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte über eine körperlich Kranke Frau. Man hätte eventuell sogar sowas wie Mitgefühl empfinden können für die Protagonistin. Aber es wäre dann halt kein Entwicklungsroman mehr gewesen. Und zwar jene Geschichte, die die Entwicklung einer nicht harmonischen Persönlichkeit aufzeigt, ein Lebenslauf, der unlogisch und durchbrochen ist. Ich weiss nicht, ob ich es falsch gemacht habe. Schliesslich gibt es keine Kausalität zwischen der psychisch kranken, unangepassten jungen Göre des ersten Teils und der köperlich kranken älteren Frau des zweiten Teils. Ich meine: es gibt keinen logischen Zusammenhang,indem man zum Beispiel sagen könnte: das eine Übel führte zu andern Übel. So ist es nicht, im Gegenteil: im Prinzip ist diese Fusion von psychischer Auffälligkeit mit physischer Krankheit schädlich für die Sache Myalgische Encephalomyelitis. Was zufälligerweise meine Krankheit ist. Aber ich hatte eben keine andere Möglichkeit, als jene biografischen Stränge zu verfolgen, die für das Leben meiner Protagonistin wichtig waren. Im Prinzip hätte ich zwei Bücher schreiben sollen: eines über die Persönlichkeit der Jeanne. Und eines über die physisch kranke Jeanne. In diesem hätte die Persönlichkeit keinen Platz mehr gehabt, versteht sich.
MJS: Wer ist Jeanne Stürmchen?
Marion: Jeanne Stürmchen ist ein Verbund von unzähligen kleinen Identitäts-Knospen, von denen einige blühen, andere nicht. Obschon Jeanne einen echten Kern hat, versucht sie sich in den unterschiedlichsten Rollen. Dabei ist es nie so, als würde sie diese Rollen spielen, nein. Jeanne Stürmchens Persönlichkeit ist einfach vielschichtig und weitläufig. Sie rollt sich aus wie ein Meer, zieht sich wieder ein, lässt verschiedene Töne und Schwinungen erklingen. Hat einen Kern, glaubt sich aber doch diffus und zersplittert usw. So wird man ohne Gegenüber, wenn man um sich selbst kreist!
MJS: Was ändert sich mit der Publikation vom „Glaubenssatz“ für dich?
Marion: Äusserlich ändert sich nicht viel für mich. Aber mit dieser Publikation kann ich nun einfacher sterben. Es fühlt sich für mich so an, als hätte sich endlich ein Teil von mir materialisiert. Ich erfahre einen Körperzusatz. Allerdings kommt dies für mich Jahre zu spät. Ich hinterlasse ein bereits verfaultes Kind, weil ich nicht mehr auf der Höhe meiner Fruchtbarkeit stehe.
MJS: Loser-Verlag; das ist nicht gerade ein hübscher Name… abgesehen davon: bist du nicht ein wenig zu hart mit dir selbst?
Marion: So hart mit mir, wie kalt und hart die Welt mit mir war und es noch ist. Ich habe den Loser-Verlag für unzugängliche Dichter gegründet, die, wie es der Name sagt, als gesellschaftliche Verlierer gelten. In diesem Verlag sollen Schreibende unzugängliche, aber auch technisch nicht einwandfreie Literatur veröffentlichen können, die sich versperrt. Diese Literatur kann mehr Unebenheiten haben, aber sie ist auch charakterstärker. Schreibende, die unfähig sind zur Gefälligkeit, nicht wissen, wie man schmeichelt und sich verkauft, publizieren im Loser-Verlag. Natürlich kann man diese Loser mit etablierten Literaten vergleichen, wie man alles vergleichen kann. Aber diese Dichter sind in sich selbst anders. Und dies macht ihre Texte einzigartig und ihre Stimmen subversiv und unkonsumierbar.
MJS: bist du, Marion, eine solche unkonsumierbare Schreiberin?
Marion: Ich bin mehr ein unkonsumierbarer Mensch, aber als Dichterin arbeite ich auch mit trivialen, teilweise ganz ordentlich konsumierbaren Versatzstücken, denk ich. Ja, ich denke, ich bin im Prinzip irgendwie ein trivialer Mensch. Trivial und primitiv bin ich geworfen in eine so „hoch entwickelte“ Kultur, in ein solches tumorartiges Geschwulst von Codes und Verhaltensregeln, dass ich nicht anders konnte, als mich ein wenig um mein Tiergehirnchen zu kümmern. Genaugenommen: Ich musste mich reflektieren. Dies wurde von mir verlangt, denn man sagte mir, ich sei dumm. Und das war wahr. Wer dumm ist, schulisch dumm; der muss so gut wie alles mit seiner Intution kompensieren. Meine Intuition ist wahnsinnig scharf ausgeprägt. Ich erspüre alles. Und darin liegt eine Form von Klugheit. Im Bezug aufs Schreiben hat mir diese Art Klugheit leider nichts gebracht.
MJS: Wie meinst du das?
Marion: Ich meine, dass man zum Schreiben nur das Gehirn braucht, letzendendlich. Intuition, Sensorium, Perzeption, Gefühl: all das bringt nichts, wenn es darum geht, sinnliche Erfahrung in einen Inhalt zu ergiessen und diesen mit einer Form in Einklang zu bringen. Für diese Arbeit braucht es nur den Intellekt. Leider.
MJS: Du hast mal gesagt, dass du aus dem Bauch schreibt. Stimmt das jetzt nicht mehr?
Marion: Ja und Nein. Sagen wir es so: ich glaubte, ich könne nur schreiben, weil ich so viel fühle. Aber das war eine Falschannahme. Die annähernd passablen Texte von mir sind solche, die mit wenig Gefühlen verlinkt sind. Zb. Evolving Bern. Meine einzige Auftragsarbeit, in der ich durch die Stadt Bern däsele und bisschen was von der Architektur schwafle.
Aber ich wäre zu faul, zum Schreiben, wenn ich nicht leiden würde. Und Leiden; das ist Fühlen in seiner Rohform.
Das Gefühl stand mir beim Schreiben total im Weg. Es ging mir gegen den Leib, es wegzuräumen. Ich verlor viel Stamina,
weil mein Körper nicht zum Schreiben geboren wurde, sondern, um sinnliche Erfahrungen zu kosten. Naja, es kam halt alles anderes. Wir leben ein anderes Leben, nicht das unsere.
MJS: hast du irgendwelche Erwartungen bezüglich der Verkaufszahlen deines Buches?
Marion: ich erwarte einen Jahresdurschnitt von ca. drei bis fünf verkauften Exemplaren, ja.
MJS: warum jetzt wieder so bescheiden?
Marion: weil es mir nicht ums Verkaufen geht. Was ich erreichen wollte, war ein Abzug meines Stoffes von mir selbst, eine Durchtrennung von meiner Haut, die mit diesem Mühlstein von Autobiografie verbunden war. Ich hätte zehn verschiedene Autbiografien schreiben sollen in zehn Jahren. Statt eine einzige, aber diese ständig umschreiben! Was für ein Bedauern! Aber hätte ich nicht meinen Loser-Verlag gegründet und hätte ich diese autobiografische Fiktion da nicht herausgebracht in Buchform, wäre ich mit diesem Mühlstein nächstens untergegangen….
Nun halte ich mein eigenes Leben in Händen. Es ist wirklich, als hätte ich endlich geboren. Wenn auch ich über dem Ausbrüten verfaulte. Nein, es geht mir nicht um die Verkaufszahlen, es geht mir um zwei Dinge: die Materialisierung und Buchform und um eine Beurteilung.
MJS: Wer soll „Glaubenssatz“ denn beurteilen? Und wo soll das geschehen? Ein Buch, das im Loser-Verlag erschien….
Marion: Ja, wie soll ich das wissen…. ich glaub, ich werde allmählich müde, gottseidank, der Schlaf naht! Zeit, alles zu vergessen!
MJS: Marion, vielen Dank für dieses Interview und herzliche Gratulation zur Veröffentlichung deines Buches
im Loser-Verlag. Bist du jetzt kein Loser mehr?
Marion: Doch.
MJS: Warum?
Marion: Weil ich meinen Glaubenssatz nicht bei Wagenbach oder Suhrkamp veröffentlichen konnte.
MJS: Hm. Offenbar widersprichst du dir. Letzte Frage: Du hast am Anfang gesagt, dass du dich vor Langeweile um ein Haar umgebracht hättest, wenn du deinen Glaubenssatz nicht hättest publizieren können. Warum und was wäre gewesen, wenn?
Marion: Es gibt genau zwei Zustände in meinem Leben: entweder bin ich in physischer Agonie (und also absorbiert von Symptomen) oder ich bin im psychischen Hunger. Über diesen beiden Zuständen hängt der doppelverpanzerte Lockdown meiner Dauer. Du weisst ja, dass mein sozialer Lockdown mit meinem organischen Lockdown Hand in Hand einherging. Im letzten halben Jahr ist ein Stillstand eingetreten, der mich stündlich an den Rand des Wahnsinns trieb. Es fühlte sich an wie: eingesperrt sein hinter Glas, lebendig sein, wach, aber jeder Durchgang zum Leben ausserhalb meiner Selbst ist luftdicht versperrt. Ich konnte nicht mehr so weitermachen, ich hätte mich umbringen müssen aus Langeweile und Unterforderung. Ich sah über Wochen kein menschliches Gesicht. Ist das nicht ein Grund zum Suizid?
MJS: Dass du dein Buch jetzt veröffentlicht hast; heisst das, dass sich doch etwas für dich ändert?
Marion: Nein. Das hast du mich schon gefragt.
MJS: ich meine, weil ich davon ausgehe, dass du dich jetzt nicht umbringst, weil dein Buch rausgekommen ist. Dann muss sich schon irgendetwas für dich verändert haben, wenigstens gefühlsmässig.
Marion: Ja, ich kann nun mein Leben als einen Gegenstand in Händen halten. Das stimuliert mich innerlich.
Und falls ich jetzt von Natur aus sterben muss, dann kann ich mich an diesem Gegenstand halten, als wäre es eine menschliche Hand. Es ist nicht sicher, ob es sonst eine geben würde.