Für Zwischendurch: Briefe eines jungen Frisörengehirns an den Psychiater (1999)

Bern, den 22.10.99

Sehr geehrter Herr Doktor

Leider kann ich Ihnen den gewünschten Lebenslauf noch nicht senden, da ich ihn erst schreiben muss! Respektive ich fürchte, ich kann meinen Lebenslauf noch nicht schreiben, da ich erst mein Leben leben muss! Bevor ich überhaupt so was wie einen Lauf im Leben habe! Mit dem Schreiben, zu dem Sie mich angehalten haben, neben den Arbeitsmassnahmen, geht es übrigens bergab. Ich muss sagen, ich möchte gern auf ein Ohr stossen. Aber da gibt es etwas, das ich niemals schaffen werde: den Ton, mit dem ich zur Welt gekommen bin, auf einen Markt, sagen wir sogar, einen Literaturmarkt, zuzuschneiden. Wissen Sie, auf eine Weise wäre ich gerne Sie! Dann würde ich wie ein grosses, leeres Buch, all die Gedanken und Offenbarungen Ihrer Patienten, ihre grossartigen Vermurkstheiten – ich meine, das sind Sie doch, solche inneren Ergüsse, die Ihnen wildfremde Menschen anvertrauen? – zu einem einzigen, möglichst endlosen Erzählstrang zusammenweben. Dann würde ich die Geschichte, die sich aus dem Erzählstrang ergibt, Ihnen bringen, und Sie könnten dann mittels Ihrer langjährigen Berufsausbildung, unter anderem am Psychologic Institut in Amerika, eine Persönlichkeitsstruktur filtern. Einen Menschen  aus dem Flickteppich inklusive einer Diagnose!

Hiesse die Krankheit dieses Flickteppich-Menschen Sehnsucht? Hiesse sie Unsicherheit? Hiesse sie Zaudern, Verhindertsein, Stürmischsein? Leben?

Leider weiss ich mit knapp Sechsundzwanzig immer noch keinen Beruf, der mir kleidungsmässig passen könnte. Zu schade nur, dass nicht ICH ein Kleidungsstück bin! Habe ich heute im Warenhaus Globus gedacht, als ich bei den Strümpfen stand. Ich drehte mich übrigens gerade vor einem bespiegelten Regal ab, weil ich glaubte, ich hätte Sie, Herr Doktor, einige Meter hinter mir, ebenfalls vor den (männlichen) Strümpfen entdeckt.

Das Problem mit den Strümpfen ist bei mir, dass ich bei der grossen linken Zehe immer nach Ablauf des dritten Tages ein grosses Loch kriege. Das Problem mit den Socken jedoch, dass ich davon zwar rechte und linke besitze, aber ganz viele, viele … verstreute … verlorene … Warum eigentlich, Herr Doktor, ist es so schwierig eine rechte Socke zu finden, die zu einer linken Socke passt, was meinen Sie? Wollen wir diesem Problem einmal nachgehen? Ich meine, jetzt nicht im Warenhaus, nicht im teueren Globus! Sondern bei Ihnen, bequem, in der Praxis.

Freundliche Grüsse

Jeanne Stürmchen

(2000, the Bordi-Collection)

 

 

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