3004_Diary_September

Auch ich sage von der Natur: sie ist das, was ich brauche.
Dieses läppisch kleine, zurückgestutzte grüne Überleben zwischen unseren Betontürmen- Betonstrassen- Massenhaltungs-Klötzen und Drahtwülsten.
Aber warum sagen wir, wir lieben die Natur, wir erholen uns in der Natur, die Natur ist das Einzige, das uns Halt gibt, ist der Rückzugsort von der irren menschengemachten Mühle? Warum sagen wir das, wenn wir die Zerstörung dieser Natur gleichzeitig nicht aufhalten?

Ideologie nach Zizek ist dies: „Wir wissen, dass wir Scheisse bauen. Aber wir bauen trotzdem Scheisse.“
Das Zeitalter des Zynismus geht so: „Wir reden von der Scheisse, die wir bauen. Und bauen sie trotzdem.“

Und ich? Welche Scheisse baue ich?
Nun, um mich steht es auch nicht gut. Ich sehe meine Borderline-Störung mehr und mehr in einer Wechselwirkung mit der ausufernden Borderline-Störung meiner Umwelt. Borderline ist nicht einfach da, in einer Persönlichkeit allein, es ist auch eine Dynamik. Und seit einigen Jahren geht die gigantische Borderline-Dynamik von meiner Umwelt aus, von der ganzen Welt oder anders: zumindest von ihren Zeichen, die ich soweit lesen und deuten kann.

Ich lebe am Abgrund und vermisse das, was ich selbst nicht mehr geben kann, (Lust und Lachen) weil die Erfahrung des Verzichts und des Mangels mich bedürftig und gleichzeitig total provokativ macht. Ich bin auf Single-Plattformen und speise mich dort an einem hysterischen Sportaktionismus, an einer Darstellung Unmengen entleerter Aktivität, als ob es darum gehen würde, zu zeigen, wie mechanistisch man ist.

Eine Zeitung hat neulich darauf aufmerksam gemacht, dass die Bildung des Mannes auf diesen Plattformen Mangelware ist, aber das ist für mich nicht der springende Punkt. Das Erschreckende daran ist, dass diese Leute, die  dasselbe suchen, wie ich, in meinem Geschlecht, nichts von sich preis geben können, nichts über sich erzählen können, nicht als sich selbst da sein können, ja, nicht einmal ein ansprechendes Gesicht zustande bringen, obschon sie nacktbrüstig oder im Jackett oder mit dem Eispickel und Zelt, dem Handy in der Hand in den Badezimmerspiegel abgelichtet posieren. Eine dreifache Konversionshysterie.

Ich suche vergeblich Schönheit. Ich finde nur Funktionalität, Fun, Aktionismus und Narzissmus in Form von Selbstentfremdung.

Ein echter Narzisst wäre um Schönheit bemüht, müsste sich überlegen, wie Verführung sich anfühlt, müsste sich der Katastrophe der Abweisung aussetzen, weil er aufs Ganze geht, müsste sein Auge in sich richten, ebenso stark, wie nach Aussen.

Wann gab es zuletzt Schönheit? Bei den Griechen? Bei den Dandys um Oscar Wilde?
Für mich ist Schönheit Entgrenzung, Selbstreflektion, Kontrolle, Spiel, es ist Arbeit und Umgang mit seinem eigenen Ausdruck,
mit sich selbst.

Mich dünkt, ich sehe nur noch ein verendendes Ich.

Der Blick dieser Leute auf diesen Plattformen auf mich, ist in etwa derselbe, den sie auf die Natur haben. Die Natur und ich sind Verfügungen für das Austoben und Ausagieren dieser Leute, die mir gezüchtet, mechanistisch, hohl und unterdrückt vorkommen.
Dies ist das, was von der Freiheit als freien Skalventums übrigbleibt, dieses fürchterliche Despotentum, dieses kaputte Ganze, Zerstückelung, herbeigeführt vom Arbeitsmarkt, der Wirtschaft, den Rattenschwänzen dieses Pulverfasses, das in die Luft geht, dann, wenn die Natur in immer kürzen Abständen ihre Rache nimmt.

Es ist alles sehr beklemmend geworden, zumindest von meiner Warte aus ist die Aussenwelt erkrankt an ihrer chronischen Konversion, an Verblendung und Leugnung der eigentlichen Probleme, die nicht wirtschaftlicher Art sind, die zugedeckt sind
von diesem Leerlauf eines maroden Leistungssystems und einer Entourage an Despotentum in der umliegenden Welt, so, als
ob nach Gott, die Vaterfigur gestorben wäre …. was zu diesem krankhaften Gebaren der fehlenden Autorität, der kaputten Ethik,
um sich selbst, um andere, um die Natur, um Alles … auf den Plan holte.
Wie gesagt, ich sehe nicht viel, aber das, was ich sehe, macht mich aggressiv. Auch das Mitläufertum, dieses Gutreden der Zustände, diese Abwehr, die immer das eigene Fremde in sich abwehrt.

Ich bin auch krank, denn wenn ich hässliche Menschen sehe, werde ich wütend. Für mich sind schon Sportler hässlich, eben, weil sie in diesem kleinen kostbaren Stück Natur rumtoben, in ihrer hässlichen Montur, ein Ausdruck von Besitznahme und Leere zugleich, von Überheblichkeit, ich kann nicht verstehen, warum Menschen ihre körperliche Kraft zusammen mit Maschinen in die vulnerable Natur versetzen müssen, um dort ihren Ausdünstungen der Unterdrückung freien Lauf zu lassen.

Es ist hier, wo ich bin, so eng, dass ich oft glaube, zu ersticken. Ich ertrage die Menschen nicht mehr, denn niemand will mit mir sein, niemand will mir begegnen, und ich bin unfähig, zum jetztigen Zeitpunkt mich auf die Ebene von Plattitüden und Smalltalk niederzulassen. Ich lasse die Regeln der Konvention fallen und scheisse auf Höflichkeit, aus dem alleinigen Grund, weil ich mich so sehr nach Schönheit sehne, und dies fordert den Einsatz des Eigenen, ist original, ist ein sich abgrenzendes Zeichen.
Ich schiesse mir mit meinem Verhalten selbst ins Knie, aber das ist die Borderline-Dynamik, die mich von draussen erreicht
und in ein Tier zurückverwandelt, das aus Verstörung über so wenig Echtheit und Natürlichkeit, über so wenig Mut und Grausamkeit, über so viele Scheuklappen und Scheinheiligkeit, anfängt auszuschlagen.

Als Mensch mit einer chronischen Erkrankung, die es die Herrschaften nicht lohnt, zu investieren, bin ich weit abgerutscht, und an meinem sozialen Schlusskapital liegt es, dass ich kaum noch Termine bei Ärzten bekomme, dass man mir überall mit Gleichgültigkeit begegnet, weil ich verloren bin.

Ich habe noch eine einzige Karte auszuspielen, aber bis dahin muss ich mich ziemlich kontrollieren, muss mir sagen, dass ich das Privileg habe und den Fluch, über das nachzudenken, in aller Ruhe, was mit mir und rund um mich geschieht, meine Gedanken können dorthin gelangen, wo es unbequem ist, ich brauche mich vor nichts zu fürchten, ich habe diese einzige Freiheit, zu beschreiben, was ich erlebe.

Ich bin des Subjektiven leid, oh ja.
Aber es wird, zumindest für mich nichts anderes mehr geben.

Die Welt der kollektiven Gleichschaltung durch computergesteuerte Hilfsmittel wie Gehirnchips etc., all das werde ich nicht mehr erleben. Aber die Auflösung des verhafteten Subjekts ist spürbar an allen Ecken.

Diese Freiheit, da, die mir auferlegt ist, ist auch extrem beschwerlich. Und habe ich keinen Despot als Chef, der mir den Freiraum für echte Selbstentwicklung nimmt, so habe ich einen Körper, der sich ununterbrochen wie ein Despot aufführt und meinen Alltag bis ins kleinste Detail dominiert.

Die Menschen, denen ich in den letzten drei Jahren begegnete, waren auch ohne die rechte Liebe, waren auch verwirrt, bedürftig. So ging es immer auseinander…..

Gestern abend aber  hat mich vorne bei der äusseren Enge, beim Burgerspital ein alter Mann angesprochen und mit ins sein Krankenzimmer im 14 Stock genommen. Wir schauten über die Lichter von Bern, ein Ausblick, den ich so noch nie hatte und rauchten eine Zigarette über die Brüstung hinab,  obschon wir beiden sichtbar Nichtraucher waren. Der Mann war etwa Siebzigjahre alt, aber er hatte noch diesen bubenhaften, androgynen Schalk und üppig leuchtende, dunkle Augen. Etwa fünf mal fragte er mich, ob ich einen Kaffee wünschte. Ich verneinte fünfmal. Und irgendwann merkte ich, dass der Mann, der mir sagte, er habe nichts, er wohne einfach so in diesem Wolkenkratzer von Spital, vermutlich schwer dement oder aber an Alzheimer erkrankt sein musste, dies aber elegant überdeckte. Ich zitterte vor mir her, weil ich mich überlastet hatte und er, brandmager, hielt sich mit den Händen unauffällig an der Wand. Da ging mir auf, dass ich mit diesem Mann etwas teilte, das ich längst, Monate oder länger mit keinem Menschen mehr geteilt hatte: wir teilten den Moment einer jähen Freude, eines jähen Ausbruchs in unserem elenden, einsamen Herbst, er, ohne es sich einzugestehen(ich meine den Herbst), ich, indem ich ihm eine lockere Zusammenfassung meiner Lage machte. Es war so ein freies, leichtfüssiges, etwa zehnminütiges Beieinandersein, ich wäre noch geblieben, hätte ich nicht so geschlottert. Ich winkte ihm und während ich auf dem Scooter an den dunkelgelben Moonstripes vorbei nach Hause tuckerte sagte ich zu diesem Mann: „Du hast mir das Leben gerettet. Genau das habe ich gebraucht. Du bist auf mich zugelaufen, frontal auf meinen Scooter und hast gesagt: Komm, komm mit, wir trinken einen Kaffee zusammen. Du hast mich gerettet.“ Er trank dann aber auch keinen Kaffee, und ich trank keinen Kaffee, nur er wusste nicht mehr, dass er mich schon gefragt hatte, fünfmal, ob ich Kaffee wolle. Und dass ich mit dem Scooter da war, wusste er auch nicht mehr. Dabei war er doch in meinen Scooter hineingelaufen mit den Jubelrufen: Nicht so schnell, du hast kein Licht!

Diese Entgrenzung, in der sich dieser Mann befand, hatte seine Gründe, und unser Zusammenkommen war wie eine Fügung, auch wenn er mich vermutlich nicht wiedererkennen würde, ja, vermutlich wird er heute vergessen haben, dass er mir gestern diese ungemeine Freude machte, indem er mich zu sich nahm, gewissermassen jenseits von sich selbst und doch so vollkommen bei sich. Und ich ich dachte: das war Geben und Nehmen. Einen Augenblick der Erleichterung. Und jetzt kann ich ein Momentchen weitermachen.

Muss man so krank sein, um so natürlich Mensch zu werden, wie dieser Alte?
Ich glaube, er war mal schön.

Was kann ich mit einem Menschen teilen, der nicht weiss um das Ende und um das Verwunderbare?

Was soll ich Sex haben mit einem, der keine Katastrophe kennt weder im Körper noch im Herzen?

Ideologie überfrachtet alle, ausser die, die ein echtes Problem mit der Lügenhaftigkeit haben, die einfach so nicht weitermachen können.

Van Gogh hat sich ein Ohr abgerissen, im Wahnsinn. Aber hätte er sich nicht eher die Hand abschneiden sollen?
Ich meine, symbolisch?

Oft denke ich, ich möchte mir die Augen ausstechen, um dieser Wut zu entgehen, die mir über die unsinnigen Bilder
der Aussenwelt in den Kopf steigen. Ich möchte sehen, ja, weitersehen, aber ich bin so süchtig nach einer schönen Form.

Und wenn mich jemand fotografiert, und ich sehe, wie ich jetzt aussehe, gegen die Fünfzig, acht Jahre im Bett,
bettle ich um Einlass in das Reich der Hässlichkeit, bettle um Demut und Verminderung des Schocks.

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