Der Pfrund mit dem nicht jeder wuchert. Oder: Zwei Möchtegernschauspieler in Berlin

Wronksj spielt den Hamlet. Jo hat genug am Lebens-Theater. Was aus Uli geworden ist, weiss ich nicht.
Morgens steigen sie an vergammelten Sofaliegen die Treppe hinauf zum Hoftheater und erwärmen sich mit einem Ballspiel. Derjenige, der von einem andern den Ball an den Kopf geworfen kriegt, fährt herum und ruft dem Täter so schnell wie möglich (ebenfalls) an den Kopf: „Schlagobers! Mäusejägerich! Flaschenhälschen! Parkplatz!“ Es ist übrigens erstaunlich, was so eine menschliche Physiognomie an Assoziationsreichtum alles hergibt.
Dann geht es ans Spielen von Tschechows „Onkel Wanja.“
„Nun ist es schon September. Irgendwie werden wir den Winter hier schon verbringen!“, haucht Jo in der Rolle der gelangweilten Hausdame Jelena Andrejewna, ehe die einfache, aber temperamentvolle Sonja, gespielt von Silke, mit einem schmerzlosen Schrei: „Ich liebe ihn nun schon seit sechs Jahren!“, knieweich zu Boden geht. Keine Frage, Silke füllt mit ihrem wuchtigen Körper den Raum. Ihr Spiel hat etwas Hemmungsloses und sie selbst Talent, je länger man ihr zuschaut. Bei Jo liegt die Sache gerade andersrum. Heisst es bis und mit zum dritten Sprechdurchgang, die Rolle der unnahbaren Kaprize Jelena Andrewjewna sei ihr auf den Leib geschrieben, und sie, Jo, höchst-wahrscheinlich ein Naturtalent, schwindet dieses Talent auf einmal dahin. Nicht, dass sie dadurch weniger fesselt, aber der Zuschauer entdeckt auf einmal launische Schlenker, seltsame Einsprengsel der Grotseke in ihrem Ausdruck. Er wird sich nicht schlüssig, ist das nun extra schlecht gespielt, oder kommt hier die Wahrheit zum Tragen, nämlich, dass Jo ganz einfach eine mieserable Schauspielerin ist.
Ob Jo wirklich Schauspielerin werden will, darin ist sie sich selbst nicht ganz sicher. Eigentlich liebt sie es mehr, sich regungslos und wortlos im Standmodus filigran-mimisch zu filmen. So gesehen war ihre erste und letzte Schauspielprüfung, bei der sie immerhin als Nummer Fünf auf die Warteliste kam, ein ziemlicher Überraschungserfolg. Ja, wieso das Handwerk nicht einfach mal ein bisschen üben, dachte sie zwischenzeitlich, während sie jetzt, leichthin folgert: Theaterspielen seit halt doch keine Frage der Routine, sondern der heiligen Stimmung! Des göttlichen Zufalls!
Ganz anders sieht das übrigens Uli, der in Tschechovs Stück Doktor Astrow spielt, eine, der drei männlichen Hauptfiguren, die man sich allesamt als Pfeife rauchende Galane mit weissen Bärten und einem Hang zu Gutmütigkeit vorstellt. Uli spricht den Astrow in perfektem Vortragston und zugleich eine Spur, wie soll man es sagen, zu volkstümlich. Sobald er den Mund öffnet, legt sich seine Stirne in Falten, und man fragt sich, warum man diesen so einwandfreien Astrow nicht geniessen kann. Ein Schauspieler und Freund hat Uli einmal geraten, statt mit Faust, Hoffmannsthal oder Ibsen, mit einem Teddybären vorzusprechen. Uli tat, wie ihm geheissen, stellte den Teddybären an der Ernst-Busch-Schule vor sich auf den Bühnenboden, fixierte ihn und zerriss ihn in Fetzen. Das war eine eindrückliche Perfomance gewesen und Ulis siebenundvierzigste Schauspielprüfung insgesamt.

Der Schauspielberuf ist eine ernste Angelegenheit, und Schauspieler, die von sich glauben, Schauspieler werden zu müssen, koste es, was es wolle, umflort eine gewisse Tragik. So gesehen ist das nicht anderes, als wie wenn ein Wildhüter Bankier, ein Sachbearbeiter Therapeut, ein Journalist Dichter, ein Sportler Filmstar, ein Filmstar Präsident werden will, und dieser Präsident am Schluss dann wieder Schauspieler. Ein Schauspieler ist ein jeder!
Nach dem Unterricht streifen Uli und Jo immer noch eine Weile ziellos durch die Strassen. Uli, der jeweils noch ganz in einzelnen Textstellen Astrows gefangen ist, schmeisst sich wild deklamierend in die Kanapees, von denen ihm mindestens alle fünf Meter eines den Weg abschneidet. Der Prenzlauer Berg kehrt mit seinen ramschigen alten Möbeln offenbar einvernehmlich eine Zeit vor der Wende auf die Strasse, die er in seinem Haus nicht mehr haben will. „Weisst du, ich bin wie Tucholsky,“ sagt Uli plötzlich und schnappt sich mit seinem Reisszahn eine Handvoll Rotkraut aus einem Döner. „Ich gehe durch die Strassen und grüble. Immer in der Richtung marschieren, die ich nicht einschlagen wollte, ist das einzige, worin ich mich nicht verfehlen kann.“ Jo fällt ein, dass Uli bei der Vorstellungsrunde ein paar abgebrochene Geografie-, Geschichts- und Politikstudien erwähnt hat. Nach ihrer Meinung haben Geografiestudenten sicher keine Probleme mit ihrem Orientierungssinn. „Weißt du, ich bin wie Tucholsky,“ wiederholt Uli, und fängt auf einmal an, zu lachen. Erst lacht er kläglich, dann lauter, dann plötzlich schwellend, dann rhythmisch, wie ein altmodisch rasselnder Wecker. „Könnten wir bitte … könnten wir bitte …“, rasselt dieser Wecker“, … ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit haben, ein bisschen weniger … hahaha … Traritrara, keine Kunst, bitte …!“ Ulis hysterisches Lachen geht sofort auf Jo über, die begeistert ausruft: „Dein Lachen ist bühnenreif!“
Sie sitzen jetzt vor einer kleinen schäbigen Wurstbude auf zwei Klappstühlen in der Schönhauserallee und Jo überlegt sich, ob sie es Uli vielleicht sagen soll, das nicht so einfach Sagbare: dass ihm zum Theaterspielen vielleicht irgendetwas fehlt. Der springende Funke, der poppige Sternschweif, das Charisma halt. Aber keinem Vernarrten spricht man seine Obsession aus! Soviel weiss auch Jo.
Mittlerweile ist mit Uli eine Wandlung im Gange. Weit zurückgelehnt im Klappstuhl, fesseln ihn die Sterngebilde! Die Astrologie sei ein Gebiet, das ihn ungemein interessiere, genauso wie die Politik. Nachdem er eine Flasche Bier geleert hat, klemmt er sie sich zwischen das Auge und späht ihr lange auf den Grund. Die Deutschen, die die Geschichte ausser Acht lasssen würden, könnten vom amerikanischen Regierungssystem durchaus etwas lernen, fängt er an. Er, zum Beispiel, ein Deutscher aus dem Westen, habe die Unterschiede der etruskischen, römischen oder byzantinischen Kunst fein beobachtet und somit viel über die kulturelle Gemeinsamkeiten gelernt. Im Übrigen liebe er die Heilkraft des Chinarindenbaums. Und sollte es mit der Schauspielerei nicht klappen, ziehe er mit Chinarindenbäumen ein Geschäft auf, deren Heilkraft auch den kranken Deutschen zugute komme.
Ob er nicht Lust habe, einmal eine Szene aus dem Leben zu improvisieren, zum Beispiel am nächsten Tag am Hoftheater beim Einwärmen?, wirft Jo ein. Sie werde von Schlagobers-Wanja immer Flaschenhälschen und er immer Parkplatz gerufen, da mache es doch Sinn, einmal durch eine andere Einwärmszene in Schwung zu kommen. Diese spiele zum Beispiel neben einer Würstchenbude unter freiem, leicht Berlin-dunstigem Himmel, welcher von einem Mann, der da in völliger Selbstzufriedenheit weit zurückgelehnt in einem Klapperstuhl hocke, in vollkommener Gelassenheit betrachtet werde. Die Szene sei uneindeutig und von mittlerer Spannung und Attraktivität, und der Mann lasse alles raus, was ihm mündlich gerade so durch den Kopf gehe. Ob er sich die Seele erleichterte oder nicht, sei nicht klar, wie das bei allen Szenen aus dem Leben so der Fall sei, aus denen man nicht ganz schlau werde.
Uli, der Jo kaum zugehört hat, ist von ihrem Vorschlag wenig begeistert, aber seine Laune fällt danach wieder ins sich zusammen. „Aber ich muss unbedingt Schauspieler werden! Ich bin der geborene Schauspieler …“

Ein Schauspieler darf sich für nichts zu schade sein, weil er sich damit nur selbst im Weg steht. Soviel weiss auch Graf Wronskj, eine schauspielerische Wundertüte und ein Punk, der übrigens in einem Haus lebt, das seit der Wende von Tausenden von Touristen fotografiert wird. Henning hat Astrow einen aufgeplusterten Hahn genannt, und Uli selbst als einen passablen Kandidaten fürs Lehramt oder die Kanzel bezeichnet. Graf Wronksj, indessen, Ulis Hilfe in der Not, gibt das männliche Federvieh auf schlitternden Tennissocken meisterhaft, er kriegt dafür die Aufmerksamkeit, die ein Schauspieler braucht und will, während sich Jo, deren Augenmerk eher auf Uli liegt, vor Lachen leider krümmt.
Wenn ein klassisches Werk plötzlich eine urkomische, irrwitzige Form annimmt, je nachdem, kann dies auch privat eine Entdeckung sein.

Mit strengem Ton ruft Henning Jo auf die Bühne.
„Jelena Andrejewna!“ – „Nun ist es schon September. Irgendwie werden wir den Winter hier schon verbr … !“ – „Noch einmal! Los!“ – „Nun ist es schon September …“ – „Stopp! Das war nichts!“ – „Nun haben wir …“ – „Jo, wo bist du? Entweder spielst du viel zu dolle! Oder komplett hohl!“
Kann sein, dass Hennings schlechte Laune etwas mit seinem Rausschmiss bei der Serie Traumschiff zu tun hat. Silke fände das allerdings schade, denn Henning ist gutaussehend und gleicht Sascha Hehn bis aufs Haar. Auch Jo erinnert sich an ihren Schauspiellehrer vage als die reinste Schmalzlocke. Wenn sie heute ihr kleines Zeugnis vom Hoftheater aufklappt, ist sie manchmal ganz stolz auf die da von ihm verewigten Worte: ‚Ob Jo Braun zum Schauspielberuf Eignung hat, muss bestritten werden. Sicher spielt sie eher Zustände, als Handlungen. Aber egal wie schlecht oder gut sie etwas macht, man schaut hin. Das ist ein Pfrund, mit dem nicht jeder wuchert!“
(1998/2016)

 

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