‚Von einem lichtvolleren Leben herkommend …’ Porträit Evelyn

Evelyns Erdgeschosswohnung war dunkel und abgestanden. So gut wie nie zog sie die Läden hoch. In beiden Zimmern lagen verbeulte Matratzen herum, geziert mit blauen, randvollen Kehrrichtsäcken. An den Wänden der bröckelnden Tapete hingen vergrösserte, etwa dreissigjährige Zeitungskopien, die überall dasselbe Gesicht zeigten: einen Mann, der von einer Tribüne aus in ein Mikrofon sprach, ein Politiker, vielleicht, vor einer applaudierenden Masse. Es ist schwer zu schätzen, Evelyn war damals etwa Vierzig.  Obschon sie wie in einer Höhle lebte und darauf achtete, ihre Wohnung unter Verschluss zu halten, drang der Duft nach Alkohol und Erbrochenen irgendwann ins Treppenhaus und erreichte die andern Parteien.

Rhea, die Akkupunkteurin, eine Etage über Evelyn, wusste, dass Evelyn vor zehn Jahren im Lotto gewonnen und alles Geld innert Kürze verloren hatte. Rhea, die nichts mit Schmutz und Elend am Hut hatte, sagte nicht: Sie (Evelyn) versoff (es, das Geld), so wie Dorli das sagte, wieder und wieder. Aber Dorli, die achtzigjährige Bernburgerin aus dem Dachstock, war auch schon leicht dement. Kaum hörte Jeanny in der Einzimmerwohnung unter ihr etwas lauter Rapmusik, rief Dorli bei ihr an und drohte mit der Polizei. Das ging soweit, dass Dorli bei Jeanny anrief, wenn Jeanny nichts anderes tat, als brüten über eine eindringlichere Art des Redens.

Am Tag als Jeanny dann bei Evelyns lottriger, von Schürfungen gezeichneten Tür klingelte, weil es im Treppenhaus auffällig nach Gas roch, öffnete Evelyn die Tür nur zu einem winzigen Spalt. Ihre Stimme war ausnehmend freundlich und warm. Es war eine Stimme, die den Austausch mit anderen Stimmen nicht mehr gewohnt war. „Es ist alles gut bei mir, Jeanny, du musst dir keine Sorgen machen. Hast ja selbst genug mit deiner Arbeitslosigkeit. Bald kommt ja sowieso die Abfuhr.“ – „Was meinst du mit der Abfuhr?“ Erst, als Jeanny wieder in ihrer eigenen Wohnung war, kam ihr der Gedanke, dass Evelyn vielleicht wirr geworden war.

Das mit dem Gas wiederholte sich. Schon am nächsten Tag und am übernächsten roch es wieder nach Gas. Mit jedem Tag, der verging, war der Duft im Treppenhaus penetranter. Dorli geriet in einen Zustand der Hysterie und rief wieder die Polizei. Ihr Argument war: dass Jeanny zu laut Musik hörte. Rhea aber fürchtete allen Ernstes das alte, schöne Dreifamilienhaus, das Haus am Hopfenweg, könnte in die Luft fliegen. „Kannst du nicht nochmals bei Evelyn klingeln und versuchen, mit ihr zu reden? Zu dir hat sie doch noch ein wenig den Draht …“, wandte sie sich an Jeanny, die einwarf. „Reden?“ –
„Hoi Jeanny, lieb von dir, dass du nach mir schaust! Es ist alles in Ordnung mit mir, du musst dir keine Sorgen machen!“ Evelyn riss die Tür auf, ein Auge blau unterlaufen, wich sie leicht zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach zu Boden. Der Gasherd brannte lichterloh.

Jeanny versuchte es mit Schnoddrigkeit und etwas Bluff. Wie oft sie selbst in der Psychiatrie gewesen war. (insgesamt waren es nur dreimal gewesen.) Dass man manchmal kurz raus müsse, den eigenen Kram hinter sich lassen, bisschen Medikamente usw. Immer wieder schwenkte sie auf Beiläufigkeiten um, ihre Katze, das Wetter. Schliesslich, etwa nach drei Stunden packte Evelyn ihre Tasche und verliess mit Jeanny das Haus.

Evelyn war etwa drei Wochen weg gewesen, als sie wieder zurück kehrte, die leere Tasche auffallend prall gefüllt. In der Zwischenzeit hatte sich am Hopfenweg einiges verändert: Ihr, Evelyn und Jeanny war vom Vermieter gekündigt worden, offiziell wegen Eigenbedarf. Dorli aber hatte unterdessen den grauen Star operiert und zeigte einen erschreckenden Demenzschub. Zwei mal täglich ging Jeanny hinauf in Dorlis schmucke Altjungfernwohnung und tröpfelte Dorlis Augen, zuerst das linke dann das rechte. Hatte sie das linke Auge betropft, sagte Dorli: „Gell das linke Auge hast du noch nicht getröpfelt!? Hast du meine Augen heute schon getröpfelt? Oder warst du wieder zu faul?“ Jeanny betrachtete über Dorlis Haarscheitel hinweg die unzähligen Keramiktässchen, die goldene Kuckucksuhr und den Deckenstuck. Mehrere schwere Teppiche schienen unter dem goldenen Fernsehtischchen ineinander verwoben, Jeanny versuchte zu raten: wie lange bedeckten die flaumigen Rosenteppiche Dorlis Parket? Vierzig oder fünfzig Jahre? Jeanny wusste, Dorli hatte in all diesen Jahren ein äusserst aktives Leben geführt; sie war in exotische Länder gereist, hatte hohe Berge bestiegen, Abos für Sport- und Theatervereine abgeschlossen …

In Dorlis Augen musste Jeanny faul sein, etwas Anderes konnte man Dorli nicht beibringen. Rhea aber wusste, dass Jeanny immer auf komplizierter Jobsuche war. Sie, Rhea, hatte Jeanny gratis mehrere Akkupunktur-Sitzungen verpasst, doch weil diese vergeblich waren, schloss Rhea: Die junge Frau aus der Einzimmerwohnung musste eine gigantische psychische Blockade haben. Wenn Rhea in aller Welt ihre Seminare diese über das Yin und  das Yang abhielt, goss Jeanny freimütig Rheas Balkonpflanzen. Rheas Wohnung war weiss gestrichen, leer und duftete nach nichts, einmal abgesehen von etwas Jasminduft. Das zumindest fand Jeanny, die sich in Rheas Wohnstube manchmal kurz in einen weissen Korbstuhl setzte und nachdachte: Würden Stimmen in diesem leeren Raum eindringlicher zu ihr durchdringen, als in ihrer kleinen überstellten Wohnung? Ihre eigene Wohnung, so dachte Jeanny, war weder eine Höhle des Elends noch ein spiritueller VIP-Raum, es war auch nicht die museale, mit Nippes überhäufte Stube einer Grossmutter. Ihr eigenes Zimmer war ein bisschen wie das Innere ihrer Hand: viele kleine, zu feine Linien zeigten keinen Geschmack, keine Richtung an. Deuteten auf nichts.

Einmal kurz bevor Dorli starb, traf Jeanny mit ihr vor der Haustür zusammen. „Wer bist du? Wohnst du hier?“, fragte Dorli in ihrer forschen Art. „Ich bin die von der Einzimmerwohnung, unter dir. Die du gerne ein bisschen erzogen hast. Weil ich, deiner Meinung nach, zu laut Rapmusik höre, hast du oft die Polizei gerufen, weißt du noch? Vor zwei Wochen habe ich mit dir deine Turnsachen aus dem GymandFit geholt, weil du sagtest, es sei nun ausgeturnt. Das hat mich beeindruckt, dieser Satz von dir: Es ist nun ausgeturnt. Mit achtzig warst du noch auf dem Matterhorn, auch das hast du mir erst vor einen Monat noch erzählt, habe ich recht?“ – „Ach, dann bist du die, die keine Erziehung hat?! Du hast Hausverbot, das weißt du doch? Du wolltest uns in die Luft sprengen!“ – „Die bin ich ni …“ – „Doch, ja, verheiratet zu sein mit dem Präsidenten hat dir nicht gereicht, nichts hat dir gereicht! Wegen deiner Geldgier und deiner Unersättlichkeit hast du alles verloren, und dich schliesslich aus Scham hier in einem Loch versteckt! Deine letzte Absteige! Wenn du auch nur einen Fuss über diese Türschwelle tust, dann schreie ich …“

Dorli starb innert Monatsende. Etwa zur gleichen Zeit zog Evelyn in eine geschützte Institution. Jeannys Herz klopfte, als sie noch einmal Evelyns intime Höhle betrat. Evelyn hatte auf dem Küchensims für sie einen kleinen Stein mit einer „Merci-Garvur“ hinterlegt. Diese intime Höhle, die jetzt renoviert werden würde, hatte Rhea arrogant und naserümpfend die Hölle genannt. „Sie lebte in einer Höhle wie in der Hölle!“ Sie, Jeanny, spürte wieder, wie ihr Herz klopfte. Diesmal hatte sie das Gefühl, Rhea widersprechen zu müssen. „Vielleicht ist diese Hölle auch eine Höhle gewesen, die einzige Höhle, vielleicht, in der Evelyn ihr Dasein ertrug, in der sie sich sicher fühlte, werweiss? Einmal schossen mehrere Lichtstrahlen durch den Fensterladen und versetzten die russgeschwärzten Schatten an den Flurwänden in Bewegung. Das  fremde Gesicht fing Feuer und sprang mich von allen Seiten an. Ich fühlte mich taumeln. Ein Präsident ist von weiter Oben abgestiegen und hat hier einst zu einem riesigen Publikum gesprochen, über ein Mikrofon, charismatisch, ehe er auf Papier erstarb. Und was noch aussteht, Rhea, ist der Sprechgesang.“

(5.1.2023)

(Titel:  aus dem ‚Höhlengleichnis’ von Platon)

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