Als Nietzsche begriff, was für einen feinen Übermenschen er geschaffen hatte,
fiel er dem Pferd um den Hals und weinte. In einem Moment der anbrechenden Krankheit und Schwäche
sah er das kommende Jahrhundert in einem grellen Halo über dem Marktplatz aufblitzen und wollte
noch rufen: Irrtum! So habe ich es nicht gemeint! Doch es war schon zu spät. Er hing am Hals der Pferdes
das ihn mit der Zartheit seiner wieherenden Nüstern sanft anstiess. Geduldig und gut,
im Geschirr, stand es da und wartete auf das Vorüberziehen der menschlichen Krise. Es wusste nicht,
dass Nietzsche in seinem glotzenden Auge, dem sturen, geduldigen Blick zum letztenmal im alten Jahrhundert
die Güte erblickte, und dass dieser unschuldige Blick es war, der den harten Kerl mit den grossen Visionen
mit einem mal niederstreckte und zu Fall brachte.
Nietzsche wusste, dass das Pferd nicht wusste, was er, Nietzsche wusste; nämlich, dass das Pferd ihn
in seinem Innersten traf, warum wusste er selbst nicht. Aber ich, ich weiss, dass das Pferd ihn nicht im
Innersten getroffen hätte, wenn er gewusst hätte, dass das Pferd wusste, warum Nietzsche weinte.
Wusste das Pferd, warum Nietzsche weinte? Ich weiss nicht, nein …. Nietzsche weinte, weil er im Pferd
das Mitgefühl sah. Das Mitgefühl, das er in seinen Plänen für die kommende Menschheit vergessen hatte.
Er fiel dem Pferd um den Hals und weinte, weil all das in dem Moment auf ihn zurück kam und er sich von
einer plötzlichen Verantwortung erdrückt fühlte, die er auf seinen schmächtigen Schultern nicht tragen konnte.
Niemandem war sie zuzumuten.
Irgendwie so.
(19.2.22)