Testimony ohne Zeugen (aus Teil 2)

Ich legte mich ins Bett und wurde bald einmal von meinem Nachbarn überrascht, der sich mit seinem Rollstuhl durch meine Tür drängte. Irgendwie gelang es ihm mich am Fuss zu packen und unter seine Kontrolle zu bringen. Er war jetzt nicht mehr gutmütig, loyal und charmant, sondern versuchte, sich so unbeteiligt wie möglich, zu holen, was ich ihm, seiner Meinung nach noch schuldete. Ich spürte das Gewicht seines Oberkörpers, wie Zement auf mir liegen und fürchtete mich ein wenig davor, zu ersticken. Durch seine Achselhöhle sah ich hinunter auf den Stumpf seines Beines, das unterhalb des Knies abgetrennt war und sich kaum bewegte. „Und wie hast du das gemacht?“ – „Das habe ich dir doch schon gesagt, ich kam im Wasser mit einem Haifisch in Kontakt …“ Ich lächelte. Und kurz bevor er anfing, zu prusten, sah ich hinter dem Fenster über den Bäumen unzählige rösliche Wolkenschnipsel, und ich rief:„Weißt du, wie Schäfchenwolken zustande kommen? Es muss was mit dem Wind zu tun haben, vielleicht einer Kaltfront. Ach, wenn ich es bloss wüsste!“ – „Halt die Schnauze! Willst du eine auf die Fresse?!“ Sepp bescherte mir weitere sehr unangenehme Minuten, und ich dachte der echte Winestein hätte sicher mehr auf dem Kasten gehabt, er war klug und vulgär. Aber was tut das jetzt noch zur Sache? Kurz, bevor sich Sepp stöhnend in seinen Rollstuhl hievte, verlangte ich das, was er mir versprochen hatte, doch Sepp redete sich raus. Auch am nächsten und übernächsten Tag. Dann gab ich es auf. Abgesehen davon bekam wir kurz darauf beide Covid, Sepp zuerst, dann ich. Und das ist jetzt alles etwa drei Wochen her, Jeanne. Sepp musste ins Spital wegen einer Embolie, es hat mich kaum berührt. Ich habe es erwartet, dass ich keine Empathie mehr aufbringe, nicht für Leute, wie Sepp, nicht für Andere, die so weit wie Wolken von mir weg schweben und nicht für solche, von denen du sagst, dass sie systematisch verschwinden. Verstehst du nicht, Jeanne, ich bin kein Mensch mehr, ich bin aus mir selbst herausgewachsen, als die Verachtung in den dunkelgrünen Augen der Bardot. Ich bin ein Teil dieses Films als die Verachtung, die in den Augen der Bardot spielt, als die unendliche Trauer, die über der Szene schwebt, als Piccoli sie hergibt, um sein Drehbuch zu retten. Alles ist Prostitution, alles! Wenn du das verstanden hast, Jeanne, bist du keine schöne Blume mehr! du kotzt dich selber an. Der Überdruss und die Sprachlosigkeit, die das Ende ihrer Liebe auf Capri besiegelt. Es ist so leicht, aus einem Film ein Meisterwerk zu machen, aber noch leichter, ein triviales, absurdes Leben wie meins zu verkacken.

(Dolly)

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