„Und Sie gehen also nach durchgemachter Nacht in die Stadtbibliothek, nur um ein wenig in der Nähe Ihres Freundes zu sein?“, hat der Ex-Shrink sie während einer ihrer letzten Therapiestunden gefragt. Sie hat ihn verbessert: „In der Nähe meines Ex-Freundes, ja genau! Meistens sitze ich dann an einem kleinen Schmuddeltischchen im Untergeschoss der Cafeteria versteckt hinter einer grossen Zeitung.“ – „Sie warten auf ihn?“, wollte der Noch-gerade-nicht-Ex-Shrink wissen und kritzelte wie üblich etwas in seine Agenda. „Nein. Ich stelle mir bloss vor, wie er zwei Stockwerke über mir an der Entzifferung eines mehrbändigen, ja, tausendseitigen Geschichtsbuches büffelt …“ – „Ach so.“ – „Was meinen Sie mit ach so, Herr Flottmann?“ – „Ich meine, ich schliesse aus Ihrer Aussage, dass Sie die Nähe Ihres Partners zwar aufsuchen, ihn aber gleichzeitig auf Distanz halten, in dem sie ihn nicht darüber unterrichten, dass Sie bei ihm sind, warum?“ – „Richtig gemeint, Herr Flottmann!“, triumphierte sie, die ich übrigens kenne, jetzt wieder im Element als Patientin. „Wüsste er nämlich, dass ich in seiner Nähe bin, würde er seine Arbeit sofort liegen lassen und mir unten in der Cafeteria Gesellschaft leisten!“ – „Und das ist Ihnen unangenehm?“ Der Ex-Shrink überschlug sich die Beine, die wie immer in einer erstklassigen Töffleder-Montur steckten. „Naja, Sie müssen das so verstehen: wenn ich zwischen mir und meinem Ex, der ja gleichzeitig mein bester Freund, mein bester Kumpel und meine einzige Freundin sowie mein ehemaliger Platonischer ist, diese künstliche Distanz erschaffe, mache ich dies nicht aus Spass. Im Gegenteil, ich will damit vermutlich rein unterbewusst testen, ob er nicht doch mal wieder zu all dem hinzu, was er bereits für mich ist, mein Liebhaber werden könnte! Wir wären uns dann immerhin beide Alles!“ Rambo Flottmann lächelte flott. „Und Sie glauben nicht, dass Sie Ihrem Freund mit Ihren Spielereien Schmerzen zufügen? Es ist Ihnen doch hoffentlich klar, dass es Ihr Freund sehr ernst mit Ihnen meint!“ – „Mein Ex, Herr Flottmann, mein Ex!“ – „Ja, Ihr Ex…“ – „Schmerzen? Spielereien?“, fragte die Patientin. „Sie sind so negativ, Herr Doktor! Abgesehen davon sehe ich in dieser künstlichen Distanz, die ich zwischen mir und meinem Ex schaffe auch eine arbeitstechnische Massnahme … und das ist keine alleinige Spielerei, da gehen Sie mit mir doch einig? Oder wie sehen Sie das?“ – „Ich sehe, dass wir es hier mit einem klassischen Nähe-Distanz-Problem zu tun haben. Seit vielen Jahren erzählen Sie mir davon, wie unbedingt Sie Ihren Freund verlassen wollen …“ – „Meinen Ex-Freund, Herr Flottmann, meinen Ex ..!“ Sie hätte grosse Lust gehabt, ihrem Shrink aus Ärger oder Übermut den Schenkel zu klatschen. Aber das wäre dann doch ein klein wenig zu familiär gewesen. „Ja, Ihren Ex, von dem Sie mir gerade sagen, wie gerne Sie mit ihm wieder in einer Liebesbeziehung wären. Wie viele Jahre erzählen Sie mir jetzt schon von Ihrem gemeinsamen Provisorium, in dem allein Sie das Sagen haben, Ihrem treuen Freund nach Lust und Laune mal engere, dann weitere Grenzen stecken, in dem Sie ihn einmal als Platonischen, dann als beste Freundin und schliesslich sogar als Verflossenen bezeichnen. Aber immer sind Sie gerade dabei, Ihren Freund zu verlassen …“ – „Ich? Meinen Freund, ähh, Ex-Freund verlassen?“, rief sie aufgebracht. „Wann soll ich gesagt haben, dass ich ihn, meinen besten und treusten Freund, gerade verlasse!? Und habe es auch getan?! Also bisher habe ich ihn noch nie verlassen, das müssten Sie eigentlich wissen! Ich meine, ich verlasse doch einen netten treuen Menschen, der mich liebt, und den ich vor langer Zeit in Gottes Namen aufgehört habe zu küssen, nicht einfach so und schon gar nicht ein zweites Mal!? Verlassen Sie Ihre geliebte Ex etwa, nur, weil Sie sie nicht mehr, so Gott will …“, die Bewerberin seufzte tief, „… durch allen Äther hindurch schmecken können? Tschuldige, dass ich hier Gott erwähne, aber diese Sache geht mir sehr, sehr nahe!“ – „Nun ja“, meinte Flottmann diplomatisch, „es gibt natürlich Konflikte in einer Beziehung, die eine Trennung zwischen zwei Menschen unumgänglich machen. Das von Ihnen erwähnte Beispiel zähle ich nicht unbedingt dazu.“ – „Nicht?! Was denn sonst?“ – „Von einer Seite ausgehendes, andauerndes fehlendes Vertrauen.“ – „Ach so!“ Die Bewerberin pfiff etwas durch die Zähne. „Also nein, da sind Sie auf dem Holzweg, Herr Flottmann, Vertrauen, das hab ich in ihn!“ – „Sind Sie sich da so sicher? Was auch immer Vertrauen für Sie bedeutet: es müsste daran gearbeitet werden, denn Ihr Muster bleibt sich immer dasselbe!“ – „Mein Muster? Ich habe ein Muster? Was wäre das?“ Sie pfiff nun wirklich durch die Zähne. „Da Sie nicht wissen, was Vertrauen ist, können Sie Ihren Freund respektive Ex-Freund nicht begehren. Sie haben sich ihn ausgesucht, weil er für Sie treu ist wie ein Hund. Weil Sie mit ihm machen können, was Sie wollen, genaugenommen. Sie haben ihn auf sicher. Das sehen Sie als Vorteil. Und doch kommt er Ihnen gerade deswegen mit jeder seiner Annäherung zu nahe. Denn mit jeder seiner Annäherung erinnern Sie sich daran, dass Sie nicht frei sind, wie Sie es sein möchten, sondern abhängig. Und zwar von Ihrem Freund respektive Ex-Freund, seinen Zusprachen und seiner mentalen Unterstützung. Also machen Sie sich auf die Suche nach anderen Männern, mit Vorliebe nachts und in Spelunken.“ Sie gähnte. „Aber das ist doch längst vorbei, Flottmann! Damals war ich doch noch eine fatale Frau!“ Flottmann überging diese Bemerkung. „Diese Männer wollen Sie nehmen und sich ihnen hingeben, schaffen das aber nicht, da Sie wegen Ihrer Angst vor Nähe und Ihrem fundamentalen Mangel an Selbstvertrauen auch keine Nähe zu Männern zulassen, denen Sie vollkommen fremd sind. In solche Männer haben Sie kein Vertrauen. Diese Männer müssten Ihr Vertrauen schon erst durch aufwändiges, hartnäckiges Bemühen gewinnen und immer wieder von Null auf neu unter Beweis stellen. Ohne diese komplette Sicherheit und bedingungslose Hingabe von der Seite eines Mannes können Sie sich nicht mit ihm einlassen, obschon es genau das ist, was Sie sich eigentlich wünschen: sich einem Mann hingeben, der Ihnen genau diese Sicherheit und Hingabe nicht geben kann und den Sie darum verachten …“ – „Aber genau diesen Mann werde ich doch lieben, eines Tages!?“, rief sie begeistert aus. „Oder meinen Sie, es wird nie einen fremden Mann geben, der fähig ist, mir diese Sicherheit und Hingabe zu geben, innerhalb eines Augenblicks, in dem ich es brauche, mich ihm hinzugeben?!“ Sie war in dem Moment wirklich sehr, sehr zerschlagen. Niedergeschlagen sagte sie: „Ich gebe zu, dass es mir bisher nicht gelungen ist, selbst der Mann zu werden, den Sie gerade beschrieben haben; sozusagen ein fremder, ein kaltblütiger Mann, ich als Frau! Ich will immer noch die Dompteuse, das Kind und Problemkind des Mannes sein. Ich will für den Mann kein erwachsener Mensch sein! Dumm, ich muss es Ihnen sagen, aber so ist es Herr Flottmann! Abgesehen davon gibt es für mich immer nur einen Moment, ein kleines Zeitfenster, in dem ich physisch etwas anreissen kann, sich alles und nichts für mich entscheidet! Im nächsten Augenblick kann es schon vorbei sein, und ich muss Reissaus nehmen wegen der Symptome!“ Rambo Flottmann widersprach: „Ja, Sie müssen Reissaus nehmen, aber nicht wegen Ihrer Symptome. Ihre Symptome sind nur eine seelische Katharsis, mit denen Sie sich von der Schuld Ihres Lotterlebens befreien. Tief in Ihrem Innern sagen Ihnen die Stimmen Ihres Vater und Grossvaters, zweier grundsolider Menschen, dass Sie etwas Falsches tun, wenn Sie einem abenteuerlichen Spass nachgeben, ohne vorher etwas dafür geleistet zu haben. Auch wissen Sie ganz genau, dass es moralisch nicht richtig ist, Lust ungezügelt nachzugeben!“ Rambo Flottmann kam ihr mit dieser Bemerkung etwas altmodisch vor. Sie sagte schnippisch: „Interessante Deutung, die Sie da haben! Vieles kann ich nur bejahen, mit Ausnahme des Schlusses. Aber wie gesagt: der Grund, warum ich mich mit diesen fremden und von mir, wie Sie behaupten, begehrten, verachteten, haha, Männern nicht wirklich einlasse, ist nicht, weil ich einen läppischen Spass, der mich vor Überwältigung zum Weinen bringen würde, nicht verdient habe, sondern weil ich, bevor es dazu kommen könnte, diese verdammten Symptome habe!“ – „Nein! Ihre Symptome haben Sie nur, um sich zu bestrafen!“ – „Bestrafen, mich?! Jetzt kommt es ja noch besser!“, rief sie aus. „Warum sollte ich so blöd sein und mich auch noch bestrafen, wo ich doch weder so was wie Sitte und Moral noch eine Schuld habe und nur durch die Symptome und also durch diesen Körper allein genug gestraft bin?! Nein, Herr Flottmann, so lasse ich mich nicht von Ihnen abspeisen. Nicht nach so vielen Jahren! Was steckt Ihrer Meinung wirklich dahinter?“
(2013, Blindbewerbung, Glaubenssatz)