Retro: Extrembergsteiger, bevor er abstürzt

Der Annapurna ist der schwierigste und imposanteste Berg der Welt.
Was ich fühlen muss, damit ich einen Berg besteigen will, wenn ich an seinem Fuss stehe und an ihm hochschaue? Er muss mir eine Gänsehaut machen! Mir machen nicht mehr viele Berge eine Gänsehaut! Ich habe sie alle bezwungen!
Geübt habe ich an meinem Hausberg, der Eigernordwand. Für die Heckmayr-Route, die Heckmayr, Kasparez, Harrer und Vögl 1937 in zwei Tage zurücklegten, benötigte ich 3 Stunden und 22 Minuten. Das ist sicher nicht schlecht, so ohne Sicherung. Aber ganz zufrieden war ich mit meiner Leistung dann doch nicht. Zu viele Stellen hatte ich unsauber passiert. Also habe ich die ganze Route nachträglich vor meinen Augen Revue passieren lassen und ärgerte mich sehr. Weil ich schneller sein und meine Schrittabfolgen sauberer setzen wollte, bezwang ich die Nordwand ein paar Monate später erneut. Diesmal war ich eine ganze Stunde schneller. Sobald ich das letzte Eisfeld hinter mir hatte und spätestens beim Mittelegigrat, bin ich gerannt. Ich bin sicher, man kann den Eiger in unter einer Stunde machen.
Den Everest habe ich ohne Sauerstoff gemacht, und auch den Annapurna werde ich ohne Sauerstoff bezwingen. Ich werde vom Basislager Zwei aus losbrechen und mich zuerst über den Noptse an die Luftverhälnisse gewöhnen. Der Noptse ist kein Problem für mich. Bis zu seinem Gipfel, der 7800 Meter über Meer liegt, werde ich nur eine Steilwand von knapp 2000 Metern zurücklegen müssen. Ich nehme mir den Noptse spielend vor, quasi als mentalen Auftakt, bevor ich zum Annapurna übergehe.
Ich habe den Annapurna schon vor vier Jahren versucht, doch damals bin ich gescheitert. Ein Stein löste sich und traf meinen Helm, worauf ich 300 Meter in die Tiefe stürzte. Ich war kurz bewusstlos. Dann ein paar Jahre später, als ich es erneut versuchte, wurde ich von meinem Partner versetzt. Also ging ich allein los, weil ich keine Lust hatte im Basislager zu versauern. Sowas wie den Annapurna lässt man sich einfach nicht entgehen!

Ich habe noch nie an den Tod gedacht, nie, während ich in der Wand bin! Doch diesmal ist etwas geschehen: ich kam beim Aufstieg in einen Schneesturm. Lawinen gingen dicht neben mir herunter. Ich stand in der Wand und spürte meine Füsse, meine Beine, meine Arme nicht mehr. Zitternd hielt ich mich an meinem Pickel fest und drückte mein Gewicht gegen das Eis. Und in diesem Moment passierte es, weißt du: Ich hatte Angst! Diese Angst, die man als Bergsteiger niemals zulassen darf. Was mit zum Spiel gehört. Die Angst darf keinen Weg durch die Absperrung finden in mein Bewusstsein. Vor mir ist der Berg und in meinem Gehirn steckt der Plan,
wie ich den Berg bezwinge. Diesmal war es anders.
Dabei ist Extrembergsteigen in der Hauptsache dies: ein Spiel mit der Angst. Ich brauche es, weil ich mich sonst tot fühle. Ich weiss nicht, ob du das verstehst. Ständig muss ich mir neue, schwierigere Routen ausdenken. Dabei bin ich einer dieser seltenen Bergsteiger, die spontan und intuitiv vorgehen, wenn sie mal am Berg sind. Aber wenn ich nicht am Berg bin, traniere ich wie ein Wilder. Ich bereite mich minuziös und  ehrgeizig auf mein nächstes Projekt vor. So habe ich im Voraus Hunderte von Bergen in meinem Gehirn passiert, ihre schwierigsten Passagen, die Ritzen, die Kämme, in meinen Gedanken technisch bewältigt. Wochenlang biwakierte ich in meinem Garten mit einem Temperaturregler, um mich auf die klimatischen Verhältnisse am Himalaya vorzubereiten. Meine Projekte sind ehrgeizig, ja, waghalsig. Aber Angst, nein, habe ich keine. Auch wenn ich von Projekt zu Projekt gehen muss und es mir immer schwerer fällt, einen Gipfel auszulassen. Schliesslich bin ich der beste Extremkletterer der Welt. Das wissen auch die Sponsoren!
Ich mache mir nichts vor: ich bin nur glücklich, wenn ich oben bin, ich lebe nur, wenn ich in diese intensive Stimmung aus höchster Konzentration und Gefahr tauche. Diese Stimmung gibt es nur am Berg, in ausserordentlichen Situationen, weißt du! Ich liebe es, meine eigenen Grenzen immer weiter auszulotsen! Am meisten in Erinnerung bleiben mir immer die Berge, bei denen ich an mein Limit gehen musste. Bei denen es brenzlig wurde. Das ist ein wenig wie eine Droge. Ein Berg, der mir das Limit abfordert, ist ein Berg, an dem ich niemals scheitern kann. Ich hänge vielleicht über dem Abgrund, das ja. Aber im Nachhinein habe ich es immer geschafft, mich aus eigener Kraft aus einer Gefahrenzone zu befreien. Ich habe gewonnen! Kennst du das Gefühl, gewonnen zu haben? Hast du einmal gewonnen, gewinnst du auch ein zweites und ein drittes Mal! Und irgendwann weißt du, dass du alles schaffst, denn das beweist dir deine Erfahrung.
Und darum habe ich keine Angst. Weil der Moment, in dem du die Angst zu lässt, und du dir der Gefahr bewusst wirst, du verloren bist. Wem dies in den Bergen passiert, der ist kein Bergsteiger mehr. Sicher, man weiss, was man tut. Man weiss, dass etwas auf dem Spiel steht, das jeden treffen kann. Jeder kann abstürzen. Aber du eben nicht! Nicht, wenn du den Berg vor Augen hast! Nicht wenn du losgehst und dich mit ihm misst!
Es geht immer weiter und weiter, meine Routen werden immer anspruchsvoller. Ich bin in der Form meines Lebens und auf dem Zenit meines Erfolgs. Manchmal denke ich, vielleicht weiss ich nicht, wann genug ist. Ich könnte eines Tages leichtsinnig werden und über mein Limit gehen. Als ich am Annapurna in einen Schneesturm geriet, brach in mir sowas wie ein Schalter um. Zum ersten Mal fühlte ich: ich bin komplett allein. Meine Sherpas sind nicht mitgekommen und Khan ist umgekehrt, mit den Worten, der Annapurna sei für ihn zu schwer. Und ich sei zu gut für ihn. Er könne nicht mit dem schnellsten Kletterer der Welt auf den Annapurna. So hat er mich versetzt, nachdem wir uns gemeinsam wochenlang auf dieses Ereignis vorbereitet haben.
Menschen ist wirklich nicht zu trauen. Vor ein paar Jahren habe ich geglaubt, ich könnte einem italienischen Kollegen unterhalb des Annapurnas das Leben retten. Ich brach los, ohne Sauerstoff, ohne Seil und Pickel und kam mit den Medikamenten zu spät. Er starb vor meinen Augen im Schnee. Ich kam zurück ins Basislager und schluchzte lauthals. Sowas ist mir noch nie passiert. Nie wieder kehre ich an den Annapurna, sagte ich mir. Dieser Berg bringt mir Unglück! Beim ersten Mal wurde ich am Annapurna von einem Steinschlag getroffen, beim zweiten Mal kam ich zur Rettung eines sterbenden Kollegen zu spät. Und beim dritten Mal erreichte ich den Gipfel nachts, ohne GPS-Gerät!

Ich sei gar nicht auf dem Annapurna gewesen! Hiess es darauf hin in den Medien. Es sei eine Lüge. Nur, weil ich mein GPS-Gerät wegen der Kälte ausschaltete, wurde angezweifelt, dass ich je auf dem Annapurna gewesen bin! Ich hatte mich spontan entschieden gehabt, den Berg im Alleingang zu besteigen, nachdem Khan abgesprungen war. Ich war nachts, in Stockfinsternis auf 8000 Metern über Meer angekommen, zu oberst auf dem Gipfel, in einer Rekordzeit von Achtzehn Stunden, da, wo andere das Dreifache an Zeit benötigen. Und dann das …. Ich sei gar nicht auf dem Annapurna gewesen, sondern auf irgendeinem, der unzähligen Schneehügel!
Ich bin immerhin in 2 Stunden auf den Eiger gerannt, weißt du. Aber das zählte jetzt nicht mehr. Heckmayr benötigte für die Nordwandr drei Tage, aber er hatte ja auch eine Kalbshacke im Rucksack, die ziemlich viel wog. Und Harrer, sein Zweitläufer, nicht mal Steigeisen an den Schuhen! Hinterstoisser und Kunz sind abgestürzt und kläglich erfroren, ein Jahr zuvor, weil sie schlichtweg zu langsam waren. Sie liessen sich vom Wettereinbruch auf der Höhe des Todesbiwaks entmutigen. Ihre eigene Angst hinderte sie am Weitergehen. Sie waren keine Bergsteiger mehr, nur noch Menschen. Als Mensch schlotterst du in deiner Haut, wenn dich in der Wand ein Sturm überrascht. Also pass auf!
Als ich am Annapurna im Eis hing, ging es mir ebenso. Die Lawine donnerte über mich hinweg, ich sah nichts mehr, war aufgeschmissen. Ich hing fast Achttausendmeter über senkrechtem Abgrund! Und die Absperrung, auf die ich jahrelang hin traniert hatte: bis dahin und nicht weiter mit der Angst!, hatte sich auf einmal gelockert. Darunter spürte ich die nackte Todesangst! Ja, ich glaubte, ich würde sterben, nun am Berg, den ich als einzigen noch nicht bezwungen hatte. So sterbe ich vielleicht, dann halt jetzt. Sagte ich mir, während ich in der Wand hing. Erst als ich mir dies mehrmals gesagt und die Situation sich gesetzt hatte, konnte ich mich wieder von der Angst befreien. Ich schlüpfte zurück in meine Haut als Bergsteiger und bewältigte in aller Ruhe den Abstieg zum Basislager.
Ich habe so oft etwas erlebt am Berg, und keiner ist dabei gewesen. Wenn du so hoch hinauf willst, bleiben die andern zurück. Und auf einmal merkst du, wie komplett allein du bist. Vielleicht kennst du das, umgekehrt rum, wenn du ganz, ganz tief unten bist. Ich bin ein Gipfelstürmer, der auf sich selbst vertraut. Nur auf sich selbst!
Sicher, der Annapurna ist mir dreimal zum Verhängnis geworden, und dies wird vielleicht mein letzter Versuch sein, mich mit diesem Berg anzulegen.
Ob ich weiss, wann der Moment gekommen ist, mich geschlagen zu geben? Manchmal habe ich Bedenken, ich könnte diesen Moment überschreiten! Nicht wissen, wann genug ist. Aber doch: dieser Gedanke kann mir nichts anhaben. Ich wische ihn weg. Scheitern kann ich erst, wenn ich abgestürzt bin.

(17.2.2021)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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