Portrait_Thouan

Im Sommer, als sie Thouan ermordeten, konnte ich an nichts Anderes mehr denken. Thouan war im letzten Schuljahr auf der Handleren in die Drogen abgerutscht, ich nehme an als Konsument wie auch als Zwischendealer. Es stand in der Zeitung, dass ein besonders grausamer Mord in einem Thuner Treppenhaus passiert sei. Offenbar hatten Dealer Thouan in seiner Wohnung aufgesucht, dieser aber die Drogen nicht herausgegeben, worauf sie mehrmals auf ihn einstachen. Thouan hat noch versucht über das Treppenhaus zu fliehen, vergeblich. Es war überall Blut.

Im dritten Handelsschuljahr hatte Thouan vom angrenzenden Gymnasium wegen schlechter Leistungen zu uns rüber gewechselt.
Schon bald war die Sitzordnung so, dass ich und Thouan zusammen am hintersten Pult neben der Türe unsere Plätze hatten.
Thouan war Vietnamese. Ich weiss bis zu diesem Moment so gut wie nichts über Vietnams Geschichte geschweige denn, wo auf der Karte das Land liegt.

Niemand interessierte sich für Thouan, Thouan schien sich für niemanden zu interessieren. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der so wortkarg war wie er. Wenn er etwas gefragt wurde, fing er auf seinem Stuhl zu wippen an und musste tief, tief in sich selbst nach einem verkrusteten Wort fischen. Manchmal, während des Unterrichts, wo wir beide nicht wirklich präsent waren, fing ich an mit ihm zu tuscheln. Wie er daher gekommen ist? Wo sein Vater ist? Was er später werden will?“ Thouan sagte, sein Vater sei ein Krimineller, nicht hier, weit weg in den USA. Und er, Thouan, wolle später auch nach Amerika und dort ein Krimineller werden.

Er war auf dem besten Weg dazu. Was erhoffte er sich davon? Finanziellen Reichtum?

Sein Blick hatte etwas Verschlagenes, er war wie auf Halbmast, seine Nasenbein schien bereits einmal gebrochen zu sein. Im letzten halben Jahr, als wir für die Abschlussprüfungen büffelten, kam Thouan immer seltener zur Schule, niemand wusste, wo er blieb, keiner fragte nach ihm. Während der Abschlussprüfung fehlte Thouan die meiste Zeit, so auch in der Stenografie, ein Fach, das damals im letzten Jahr gelernt wurde, und das Thouan so gut wie immer geschwänzt hatte. Was hatte ein Ganove schon von der Kürzelschrift?! Abgesehen davon kam jetzt der Computer und revolutionierte alles!

Als der Rektor Neunzehnsechundneunzig die erfolgreichen Prüfungsabsolventen verkündet hatte, erwähnte er Thouan Ngyuen als ersten und einzigen Absolvent in zwanzigen Jahren, der durch die Prüfung der Handelsmittelschule gefallen war. Thouan war nicht an der Verkündung.

Er lebte noch ein halbes Jahr, dann war auch seine Laufbahn als Kleinkrimineller beendet.
Ob Thouan geschrien und um sein Leben gekämpft hatte? Das war es, was ich micht die längste Zeit fragte, in diesem Sommer.
Ob es hinter seiner schweigsamen, tief verstockten, höchstens höhnisch grinsenden Maske eine Stimme gab, die jetzt am Schluss aus ihm heraus brach, laut wie ein unaufhörlicher Steinschlag?

Einmal hatte mich Thouan gefragt: „Darf ich eine Foto von dir haben?“

Er nahm sie, ohne eine Miene zu verziehen und steckte sie sich in die Jeanstasche. Die Jeans fiel ihm bis zu den Kniekehlen hinab, während er o-beinig aus dem Klassenzimmer torkelte, und ich ihm nachschaute, so lange, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.

Vietnam ist ein Staat in Südostasien und grenzt an das Südchinesische Meer. Von Neunzehnhundertfünfundfünfzig bis Neunzehnhundertfünfundsiebzig herrschte in Vietnam ein blutiger Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden Vietnams. Der Süden wurde von den Franzosen und von den USA gegen das kommunistische Nordvietnam unterstützt, das von der Sowjetunion unterstützt wurde. Es handelte sich um einen „Stellvertreterkrieg“ des Kalten Krieges. Etwa vier Millionen vietnamesische Zivilisten und eine Million vietnamesische Kämpfer verloren ihr Leben. In der Folge des Krieges verliessen viele Flüchtinge in den Siebziger Jahre ihr Land. Die USA, die selbst viele Todesopfer beklagten, nahm über zwei Millionen sogenannte Vietnam-Kriegsveteranen auf.

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