Portrait_Mel

Mel war wohl das, was man hochbegabt nennt. Ich interessierte mich nicht dafür. Äusserlich lief sie immer noch rum wie Kind, das die Mutter angezogen hat. Sie war nicht unscheinbar, ihre aschenen Locken wippten während eines jeden ihres verhakenden Schrittes. Man sah aus Hundertmeter Entfernung: hier ging eine kleine, dünne Gestalt, in deren Kopf beim Gehen etwas vor sich geht.
Mel war in meiner Parallelklasse, in der Sek.
Einmal, vor dem Turnunterricht passierte etwas Komisches. Mel kam mit einem Buch auf mich zu, klappte es auf und sagte ihrer schnellen eigenen Art: „Hier ist noch eine Karte von dir drin!“ – „Ach!“ Ich war etwas verlegen. Es handelte sich um das Buch „Maurice“ von E.M. Foster und ging um zwei Männer, die sich ineinander verliebten. Nachdem sich die Umkleidehalle geleert hatte, stellte sich heraus, dass wir beide, Mel und ich dieses Buch geliebt hatten, wie kaum ein anderes. Wir beide hatten uns in Clive verliebt (damals vom jungen, unbekannten Hugh Grant gespielt …. wir hatten mit ihm gezittert und gekämpft …. weil ….. weil ……

Homosexualität war damals, zu Zeiten Fosters, verboten in England. Clive heiratete schliesslich eine Frau, und man sieht ihn durch den englischen Garten schlendern, tief unglücklich.

Es war delikater, ich meine, das was uns am ganzen anzog, mich und Mel: sicher, wir waren kurz davor, aus der Enge des Dorfes auszubrechen. Ich hatte schon eine schwarze Lederjacke gekauft, anno Siebzig, in der Brockenstube, für die man heute in einem Vintageladen Dreihundert Euro zahlt. Ich war gerade mal eine kokette Prinzessin in der Jacke eines Rockers! Aber Mel war noch nicht frei, Mel war zutiefst verunsichert.

Ihre Geschichte war nicht banal: ihr Vater hatte sich umgebracht, die Mutter trank. Mel war ihr Ein und Alles, ein hochbegabtes Mädchen, das nach Cambridge gehen würde, Professorin werden vielleicht.

Als die Mutter den Umgang ihrer Tochter mit mir feststellte, war sie nicht erfreut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es über mich irgendein anderes Gerücht hätte geben können als ein Fragezeichen. Mich konnte man nicht einschätzen. Aber sicher, ein guter Einfluss war ich nicht.

Mel schloss sich für eine kurze Zeit (das letzte Schuljahr), eng an mich an. Nachts trafen wir uns beim Schlosshof im Dorf, Mel hatte ein paar Bierchen mitgebracht, sie hatte angefangen zu trinken. Diese Trinkerei nahm be ihr schnell exzessive Ausmasse an, offenbar fiel sie im Ausgang in der Cafebar M. in ein alkoholinduziertes Koma. Die Mutter machte mich für Mels Lebenswandel verantwortlich.

Als ich bei Mel zuhause mit ihr ihren „Lieblingsfilm“ „My own private Idaho“ anschauen sollte, ging ich fast drauf vor Langeweile. Zudem hatte ich grosse Lust, Mel zu umarmen. So lagen wir auf dem grossen Bett, und Mel, die einen absolut hochstehenden Geschmack in allen kulturellen Bereichen hatte, muss festgestellt haben, dass ich doch eher der Proll bin und die kokette Prinzessin, die die wirklich gute Bildung verschmäht.

Mel kam aufs Gymnasium, wo ich in die angrenzende Handelsschule ging. Sie hatte kaum noch Kontakt mit mir, behandelte mich ambivalent. Als ich den Typen abkriegte, in den sie so unsterblich verliebt war, verkleideten sich alle meine vier Freundinnen vom Gymnasium am Sommerfest in schwarze Groofties. Sie trugen Masken und schlichen unheilvoll um mich und meinen Freund herum.

Ich hatte Mel das Herz gebrochen für den Typen, der mich bald darauf verliess, vier Freundinnen geopfert, die bis zum Ablauf der Schule nichts mehr mit mir zu tun haben wollten.

Das Buch „Maurice“ hatte ich lange im Büchergestell. Die Karte war an mich selbst geschrieben, es war wohl ein sentimentaler Spruch. Mel und ich waren beide interessanterweise von der männlichen Homosexualität fasziniert und berührt gewesen, bevor unsere eigene Sexualität schon richtig „ausgebildet“ war. Wir hatten beide über längere Zeit ein Mann sein wollen, der ein Mann liebt.

Für mich wäre das sicher optimaler gewesen. My God.
(30.7.22)

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