Portrait_Evelyn


Ihre Erdgeschosswohnung war so dunkel und abgestanden, als hätte ein Mensch sie hundert Jahre nicht verlassen.
Ihr Alter weiss ich nicht, sie war damals etwa Vierzig. Obschon sie alle Läden und Türen versuchte, verschlossen zu halten,
drang der Duft süss beissenden Alkohols zusammen mit Erbrochenem ins Treppenhaus, stieg hoch und durch mein Schlüsselloch.

Ich habe sie nie beäugt, weil ich wusste, wie sehr sie sich schämte. Man hörte es fast täglich: der Versuch, zu erbrechen, wahrscheinlich, um nachhher weiter zu trinken.

Rhea, die Akkupunkteurin vom mittleren Stockwerk erzählte mir, Evelyn habe vor zehn Jahren im Lotto gewonnen und alles Geld innert Kürze verloren. Mehr wusste Rhea auch nicht. Dorli, zuoberst, war schon dement und rief die Polizei, wenn ich zu laut Rap hörte. Aber wie Evelyn dran war, davon bekam sie nichts mit.

Man kann einfach nichts mitbekommen wollen, weil man nichts mitbekommen will, dieser Fakt ist bekannt.

Evelyn war mir viel lieber als Dorli und Rhea zusammen. Wenn ich bei ihr klingelte, weil es im Treppenhaus wieder nach Gas roch, öffnete sie nur einen winzigen Spalt, aber ihre Stimme war freundlich und tief. Es war eine Stimme, die den Austausch mit anderen Stimmen nicht mehr gewohnt war, man hörte automatisch interessiert zu, auf jeden Fall ich.

Nichts ist so öde, wie ein Gesprächspartner, der im Überfluss mit Gesprächspartnern bedient wird, in der Regel.

Evelyn fing an, den alten Laden einen spaltbreit zu öffnen, wenn ich mit Hopfi draussen im Garten sass. Ich fühlte mich geehrt, schämte mich ein bisschen. Ich wollte nicht zu denen gehören, die Evelyn wie Luft behandeln und gleichzeitig hinter ihrem Rücken Schlimmes über sie denken. Ich wollte sie nicht observieren. Ich tat darum immer eine Spur zu schnoddrig zu Evelyn.

Im letzten Winter wurde ihr Konsum exzessiv, das Würgen endlos, der Gasduft penetrant.

Evelyn öffnete die Tür nicht mehr, ich schlug dagegen, mehrmals.

Sie liess mich ein, es war wie in einer Absinth-Höhle, überall hingen uralte dunkle Fotokopien eines Gesichts an den Wänden. Auf meine Frage, wer das Gesicht abbildete, gab Evelyn keine Antwort. Offenbar war es eine Figur aus dem Fernsehen der Siebziger Jahre.
Der Gasherd brannte lichterloh. Evelyn verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings zu Boden.

Es sei alles gut, sagte sie, ich müsse mir keine Sorgen machen, bald komme die Abfuhr.

In den nächsten Tagen stellte ich fest, dass Evelyn wirr redete und wohl im Delir war.

Nun bekam Dorli Wind von der Sache und drohte mit der Polizei.
Mehrmals rannte Evelyn zu mir hoch und klingelte wie wild, erzählte Rhea. Ich sei aber nicht da gewesen, oder hätte geschlafen.

Rhea wusste, dass ich so wenig arbeitete und immer auf komplizierter Jobsuche war. Aber ich wusste nicht, dass ich bereits seit langem die physische Krankheit hatte. Die universitäre Schulmedizin kannte die Erkrankung nicht, wollte sie nicht (aner)kennen.
Das hat sich bis heute, trotz WHO-Eintrag von Neunundsechzig nicht gross geändert.

Vergeblich ging ich ein paar mal in Rheas Akkupunktur wegen meiner Probleme. Weil mir die Akkupunktur nicht half, schloss Rhea daraus, dass ich irgendwo eine psychische Blockade hatte, wegen der ich nicht gesund werden konnte.

Ich akzeptierte diese Auslegung, ich kannte keine andere, obschon die Probleme, die mich einschränkten körperlich waren.*
Überhaupt nahm ich die Sache damals so gut ich konnte auf die leichte Schulter, wozu ich mir heute gratuliere.

Ich wusste nicht, ob man sich mit diesem Küchengas vergiften konnte, aber irgendwann hatte ich Evelyn so weit, mit mir das
Haus zu verlassen und einen Therpeuten aufzusuchen. Genaugenommen gingen wir direkt in die Psychiatrie. Ich bluffte etwas damit, wie oft ich schon in der Psychiatrie gewesen war.* Evelyn nahm ihre riesige Sporttasche mit, um anschliessend mit neuem Sprit nach hause zu kehren.

Jedermann kannte den Zweck dieser Tasche, nur Evelyn dachte, die Nachbarschaft sei ahnungslos.

—–

Ich mag dich, sagte sie, als ich sie Monate später in nüchternem Zustand wiedertraf.

In der Zwischenzeit war einiges passiert: Evelyn und mir war vom Hausbesitzer wegen Eigenbedarf gekündigt worden, der Zustand von Dorli hatte sich nach der Operation des Grauen Stars verschlechtert. Zwei Wochen lang tröpfelte ich zwei mal täglich die verordneten Tropfen in ihre Augen.

Hatte ich das linke Auge betropft und ging zum rechten über, sagte Dorli: „Gell das linke Auge hast du noch nicht getröpfelt!? Hast du meine Augen heute schon getröpfelt?!“ Ich war etwas schockiert, aber tat so, als hätte Dorli eine höllisch wichtige Frage gestellt.

Eines Morgens fragte mich Dorli vor dem Briefkasten: „Wer bist du, wohnst du hier?“ Ich wollte antworten: „Ich bin die, wegen der du hundertmal vor Zehn Uhr abends die Polizei riefest, weil ich noch ein bisschen Fifty Cent hörte. Ich habe sieben Jahre lang unter dir in einer winzigen Einzimmerwohnung gewohnt und fast jeden Tag auf dem Flur mit dir über die Hausordnung geredet. Du hast dir sehr grosse Mühe gemacht, vernachlässigt geglaubte Erziehungsarbeiten an mir vorzunehmen. Auch hast du mir erzählt, dass du mit Achtundachtzig auf dem Matterhorn warst. Das war etwa vor einem Jahr?“

Ich hab nichts gesagt. Sie hätte nichts mehr von all dem verstanden. (Von all diesen schönen Dingen, verdammtnochmal.)

Dorli starb bald.
Evelyn sagte mir, sie werde in einer geschützten Institution leben.
Rhea blieb im Haus und machte weiterhin Akkupunkturkurse in Bern und San Francisco.
In ihrer Wohnung roch es nach überhaupt nichts. Sogar ihre Blumen, die ich während ihrer
Abwesenheit so oft gegossen hatte,  kamen mir steril vor!

Im Nachhinein war mir klar, dass der Sohn des Wohneigentümers, der im Nebenhaus wohnte, schnell entschieden hatte,
welche Parteien bleiben und welche gehen müssen.

Wäre es mir recht gewesen, wenn die Hütte in die Luft geflogen wäre mitsamt dem Inhalt, gotteverdammt!?

——

Ich lebte gerne am Hopfenweg. Alles, was nachher kam, war nur noch Teil Zwei, die Verspätung.

Ich weiss nicht, was wurde aus Evelyn. Gab es für sie vor dem ewigen Herbst noch ein erstes Leben?

(Schnoddrig: weil ich nicht zeigen wollte, wie sie mich innerlich zum Zittern brachte.)

 

* die körperlichen Symptome machten mich invalide, die psychischen Probleme, die ich auch hatte, haben mich nie funktionsunfähig gemacht!!! Es war aber nichts als das bequemer für Ärzte u Institutionen, Aussenstehende u Angehörige, die psychische Andersartigkeit von mir als Ursache keiner körperlichen Misere darzustellen, ja, lange, bis in die Bettlägerigkeit hinauf, wurde diese Ursache vorgebracht….behauptet….und nun, spätestens seit Long Covid, wo man anfängt zu erahnen, dass ein immunologischer „Insult“ schwere ZNS Entzündungen auslösen kann, herrscht bedrücktes Schweigen.

* ich war nicht oft dort, aber zweimal für insgesamt 6 Monate

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