Memory: Tor zum Emmental 2

Mit Zwanzig wanderte ich mal auf die Egg. Zusammen mit Henry, dem warmherzigsten und vitalsten Menschen, den ich je getroffen habe.

Es war im Mai, aber bereits sommerlich warm. Einer der schönsten Düfte, die es gibt, der Duft von Heu lag in der Luft . Oben auf der Egg kamen wir an einem alten Mann vorbei, der mit der Heugabel das gemähte Gras wendete.

„Dürfen wir helfen?“ fragten wir. Denn der Mann war mindestens Achtzig und ganz in Schwarz gekleidet. Er trug auch einen schwarzen Hut.

Er gab uns zwei Gabeln und zeigte uns, wie man es macht.  Wir emdeten eine grosse Wiese bis gegen Sechs.

Dann lud uns der Alte in seine alte Karre und wir holperten einen schmalen Feldweg hinunter, eingekesselt zwischen Wald. Ich wette, es war die Privatstrasse des Alten, die keiner kannte.

Und richtig; wie das zwischen den Hügeln und Krachen des Emmentals so ist: am Ende des Lochs, das wir hinan geschlittert, kam wieder eine Wiese zum Vorschein, wieder eine Egg.

Ein grosses Bauernhaus thronte auf dieser Egg, abgeschieden von der Welt. Der Bauer gab uns Most und Käse. Dieser war so gross und weiss, wie die gewaltigen Schenkel der alten Bäuerin, die halbnackt erschien, Fässer-gleich. Die Küche war voller Fliegen. Man durfte nicht zimperlich sein.

„Diese beiden Jungen haben mir bei der Heuete geholfen.“ Sagte der Alte. Die Frau warf einen teigigen misstrauischen Blick auf Henry und mich.

Ich glaube, Henry trug sein Papageien-Hemdchen, das goldene Haar fiel ihm a la Jon Bon Jovi auf die Schultern. Ich war schwarz, mit abgezeichnetem Schlüsselbein unter blauschwarzem Haar, spinnenfein. Gut möglich, Henry trug seine kubanischen Schnabelschuhe, und ich kleine Samtpumps aus dem Piemont.

„Was!? Diese beiden Kreaturen!?“, schien der Blick der Bäuerin zu sagen.

Der Alte aber war zufrieden, und schenkte uns nocheinmal Most ein. Er schnitt Fetzen von Käse ab und reichte uns das Brot, in das wir gierig bissen.

Zum Schluss fuhr er uns wieder auf die Egg, dahin, wo er uns aufgegabelt hatte.

Wie wir heimgekommen sind, weiss ich nicht mehr. Wir haben aber noch oft von den beiden gestrandeten Alten gesprochen, dort in ihrem Graben.

Wo sie, die wassersüchtige Frau, sicher bald starb. Und der Alte wollte nicht weg, auch auf Drängen nicht.

Aussterbende Spezien Mitte der Neunziger Jahre.

Und sie? Haben noch einmal an uns gedacht?

Eine Egg ist eine Anhöhe oder ein Gebirgskamm, von wo aus man eine tolle Rundaussicht hat, von einer Egg zur andern. Ich weiss nicht, ob es ein Begriff ist, der den typischen Hügeln des Emmentals vorbehalten ist. Fast immer steht zuoberst auf einer Egg ein Baum, eine Esche oder ein Ahorn, zum Beispiel. Selten auch eine Tanne für sich allein.

1.11.2020

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