Beaurivage, Thun, 1996
8.12.1996
Auf diesen Reisen schreiben. Die Tage in der Lichterlose verbracht. Fahre in die Nächte hinaus; schon haben sich die Lichter verschlossen. So fahr ich vom lichterlosen Tag in die verschlossenen Räume der Nacht. Und will glänzen.
9.12.1996
Wenn ich nur nicht so orientierungslos wäre. Allein suche ich den Frieden, doch dann, nachts, möchte ich etwas teilen. Ein Wort, das sein Verlauten überdauert, möchte ich hören. Kann ich hoffen, dass ein Mensch in seinem Leben umherschaut, wie in einem Wunder?
Orientierungslos, weil ich etwas spüre und sie etwas auslösen in mir, diese Fremden.
Schwäne und Puppen, die davongleiten. Das Alleinsein bringt das Leben zurück und den Wunsch, die Menschen nicht zu verlassen. Nur in mir ist alles mit Allem vertraut.
12.12.1996
Und doch lebe ich ohne jeglichen Zugang zu fast allen. Kann nicht mehr von ihnen erfassen als von einem Schluck Wasser. Die Jahre vergehen: ich schliesse mich mit keinem zusammen, finde keine Brüder, keine Gleichen. Ich schlafe in einem hohen schönen Zimmer neben einem Zimmer, in dem ein Mann schläft, der noch nicht einmal zu mir wahr sprach. (Aber was wäre wahr?) Nur eine Wand trennt unseren Nachtatem. Ich habe dem Mann eine Kleinigkeit zugebracht, mit wahren Augen.
13.12.1996
Ich fahre weg. Es tut gut, im Zug zu sein, die Fragen aufgehalten, das Ziel dem leichten Rollen überlassen. Im Fahrtwind werden die schweren Dinge leichter, macht wendig die Blätter und wendiger die stehende Luft. Ich muss für die Kürze eines Moments nicht wissen, ob mich diese Schienen irgendwohin bringen und ob die Reise irgendwo endet. Unbeweglich liegt der Ort hinter mir und die Entscheidung, zu der er mich zwingt, ist abgewendet. Die Luft ist anhänglich, vom Zugfenster aus. Sie schwemmt Land heran, eine Baumgruppe am Wegrand. Fahre ich, weil mich die Frage umtreibt; an mir zerrt; ist es besser zu gehen oder zu bleiben? Wenn ich gehe, gehe ich dann nicht, um irgendwo ansässig zu werden? Ich will ja aufbrechen, in der Hoffnung, irgendwo mein Herz zu verlieren … an die Dinge, die das Leben eigen machen, kostbar, liebenswert. Und wenn ich bleibe, was finde ich? Wenn ich bleibe, schlägt mein Herz. (wegen ihm). Und wenn ich gehe, schlägt es auch …
15.12.1996
Wir mischen uns also unter den Süsswasserduft und lassen uns die Gesichter klären von den kantigen nächtlichen Schneebergen. Trauerweiden hängen über dem See, Schwäne begleiten unser Schweigen. Immer wieder bin ich eine einzige grosse Sekunde in dich verliebt, während du gestikuliert und laut sprichst, die Wolken auseinandertreibst mit deiner rauen, aufgesetzten pathetischen Art, deiner geschwelten Brust, an die du dir wie ein Russe schlägst, du mächtiger Trommler.
31.12. 1996
Ein letzter leichter Tag, und was unter dem Schnee verborgen liegt ….
Ich bin heute in den Schnee gegangen, ich wollte in ihm verschlüpfen. Aber er war so leicht, stiebte davon. Ich fühlte mich weich und feierlich. Aber ich liebte keinen Mann in diesem Jahr. Warum knallt ihr? Es ist nur die Illusion Zeit ….
15.1.1997
Verloren bin ich, allein im grossen Haus. Jeder Tag ist bemüht um seine Orte. Aber die Schatten haben heute überhand. Ich lese ein Buch, ohne zu folgen, während es eindunkelt. Ich folge mir artig in eine immer klarere Traurigkeit, ich war nachgiebig und beweglich und bot ihm (dem Tag) meine Kräfte, ich stutzte ihn nicht, ich blieb immer hinter ihm zurück in einer dunklen Verlorenheit.
17.1.1997
Die Dinge, die sich ändern müssen im neuen Jahr, sind schon auf später verschoben. Dabei: alles rund um mich herum muss sich ändern. Alles läuft dahin, dass ich diesen Ort verlassen werde, ich kann es kaum erwarten. Denn in den Nächten ist hier niemand, der mit mir wacht.
Wunschlos, nehmt ihr mich nicht auf, fühle mich ausgeschlossen von eurem lässigen Handschlag. Aber wenn das so weiter geht, kann ich nur noch nach Innen leben, wie ein rückläufiges Wasser. Ich hab ja schon jetzt verlernt, laut zu atmen. Auf leisen Sohlen gehe ich in stiller Not … bald…
20.1.1997
Werd ich dir eines abends noch sagen können, wagen können, locker und liebevoll: „Schlaf dann gut!“? Wie kann ich nur so nah an ihm schlafen, wo er dermassen in meinem Bewusstsein hockt?! Er hingegen hat so etwas sich Aufpflanzendes. Er ist wahrhaftig der Allmächtige geworden, schon von seiner schweren, schwarzen Präsenz her. Wo er auftaucht aus seiner Musik, mit seinen vom Wein zerkauten Lippen, schluckt er alle kleinen Fischchen. Wenn ich bloss einen Sprachklang für ihn erfinden könnte. Er hat mir hier Teewasser eingegossen, mehrmals. Ich stand daneben und verging, weil sein Körper, dieser Walfisch, so atmet. Ich werde bald gehen. Ein Haus weiter.
(MJS, 21jährig)