Foucault_die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit_Gespräch 1984_ Gnothi Seauton (Analytik der Macht)

Verwirklicht sich die Ethik in der Erforschung des Selbst, in der Sorge um sich?

M.F.: „Die Sorge um sich selbst war in der griechisch-römischen Welt die Art und Weise, in der sich die individuelle Freiheit als Ethik reflektierte. Wenn Sie eine ganze Reihe von Texten nehmen, angefangen von den ersten platonischen Dialogen bis hin zu den grossen Texten der späten Stoa (Epiktet, Marc Aurel…), dann sehen Sie, dass dieses Thema der Sorge um sich selbst das gesamte moralische Denken durchzog. Es ist interessant zu sehen, dass in unseren Gesellschaften die Sorge um sich von einem bestimmten Zeitpunkt an zu etwas wurde, das ein wenig suspekt ist. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde die Beschäftigung mit sich selbst als eine Form der Eigenliebe, eine Form des Egoismus oder des individuellen Interesses angeprangert, die im Gegensatz zu dem Interesse steht, das es den anderen entgegenzubringen gilt oder zur Notwendigkeit der Selbstaufopferung. Das alles hat sich im Verlauf des Christentums abgespielt, aber ich sage nicht, dass wir es schlicht und einfach dem Christentum verdanken. Die Frage ist sehr viel komplexer, denn im Christentum bedeutet das Streben nach dem Heil auch eine Weise, sich um sich selbst zu sorgen. Im Christentum jedoch verwirklicht sich das Heil durch den Verzicht auf das Selbst. Es gibt im Christentum ein Paradox der Sorge um sich, aber dies ist ein anderes Problem. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ich glaube, dass es bei den Griechen und den Römern – vor allem bei den Griechen – um sich richtig zu verhalten und um den rechten Gebrauch von der Freiheit zu machen notwendig war, dass man sich mit sich selbst befasste, dass man sich um sich selbst sorgte, einerseits um sich zu erkennen – dies ist der vertraute Aspekt von gnothi seauton – und andrerseits um sich zu formen, um sich selbst zu verbessern ….

… ich sage nicht, dass die Ethik in der Sorge um sich besteht, sondern, dass sich in der Antike die Ethik als reflektierte Praxis der Freiheit ganz um diesen fundamentalen Imperativ drehte: Sorge dich um dich selbst.“

Ein Imperativ, der die Assimilation der logoi, der Wahrheiten impliziert?

M.F.: „Ganz gewiss. Man kann sich nicht um sich selbst sorgen, ohne zu erkennen. Die Selbstsorge ist selbstverständlich Selbsterkenntnis – dies ist die sokratisch-platonische Seite – , aber sie besteht auch in einer Kenntnis einer bestimmten Anzahl von Verhaltensregeln und Prinzipien, die zugleich Wahrheiten und Vorschriften sind. Sich um sich selbst sorgen heisst, sich mit diesen Wahrheiten auszurüsten: dies ist der Punkt, an dem die Ethik mit dem Spiel der Wahrheit verknüpft ist.“

Wenn Sie sagen, dass die Ethik der reflektierte Teil der Freiheit ist, heisst das, dass sich die Freiheit ihrer selbst als ethischer Praxis bewusst werden kann? Ist sie auf Anhieb und jederzeit sozusagen eine moralisierte Freiheit oder bedarf es einer Arbeit an sich selbst, um diese ethische Dimension der Freiheit zu entdecken?

M.F.: „Die Griechen problematisierten in der Tat ihre Freiheit und die Freiheit des Individuums als ethisches Problem. Aber Ethik in dem Sinne, in dem sie die Griechen verstehen konnten: Das ethos war die Weise zu sein und sich zu verhalten. Es war eine Seinsweise des Subjekts und eine bestimmte, für die anderen sichtbare Weise des Handelns. … Der Mann“  …(youah!) „…der ein schönes ethos besitzt, ist jemand, der die Freiheit auf eine bestimmte Weise praktiziert. Ich glaube nicht, dass es einer Konversion bedarf, um die Freiheit als ethos zu reflektieren; sie ist unmittelbar als ethos problematisiert. Damit jedoch diese Praxis der Freiheit in einem ethos Gestalt annehmen kann, bedarf es eingehender Arbeit mit sich selbst.“

Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Sorge um sich selbst „verabsolutiert“, wenn man sie ablöst von der Sorge um die Anderen? Könnte diese Verabsolutierung der Sorge um sich selbst nicht zu einer Form der Ausübung von Macht über Andere im Sinne der Herrschaft über Andere werden?

M.F.: “ Nein, weil die Gefahr, andere zu beherrschen und über sie eine tyrannische Macht auszuüben, eben genau daher rührt, dass man sich nicht um sich selbst gesorgt hat …. Aber wenn Sie sich in der rechten Weise um sich selbst sorgen, das heisst, wenn Sie ontologisch wissen, was Sie sind, wenn Sie zugleich wissen, wozu Sie imstande sind … wenn Sie wissen, welche Dinge Sie fürchten müssen und welche Dinge sich zu erhoffen schickt, welche Dinge Ihnen im Gegensatz dazu völlig gleichgültig sein müssen, wenn Sie schliesslich wissen, dass Sie vor dem Tod nicht Angst haben dürfen, dann können Sie in diesem Augenblick nicht Ihre Macht über andere missbrauchen …“  (hm….) „…. Diese Idee wird sehr viel später auftauchen, als die Liebe zu sich suspekt wurde und als mögliche Wurzel verschiedener moralischer Fehler betrachtet wurde. In diesem neuen Zusammenhang wird die erste Form der Sorge um sich selbst in dem Verzicht auf das Selbst bestehen …

Sie haben vom Tod gesprochen. Wenn man keine Angst vor dem Tod hat, kann man seine Macht über andere nicht missbrauchen. Dieses Problem der Endlichkeit ist sehr wichtig, wie uns scheint; die Angst vor dem Tod, vor der Endlichkeit, vor der Verletzung steht im Mittelpunkt der Sorge um sich….?

M.F.: „Ganz gewiss. Und an dieser Stelle führt das Christentum das Heil als das nach dem Leben kommende Heil ein und bringt dadurch die gesamte Thematik der Sorge um sich aus dem Gleichgewicht … die Griechen un die Römer gehen davon aus, dass man sich in seinem eigenen Leben um sich selbst sorgt … die Sorge kann also vollständig auf sich selbst gerichtet sein, auf das, was man tut und den Platz, den man inmitten der Anderen einnimmt; sie kann völlig auf das Akzeptieren des Todes gerichtet sein – was in der späten Stoa sehr deutlich werden wird – …. Es ist beispielsweise interessant bei Seneca zu sehen, wie wichtig das Thema ist: Beeilen wir uns mit dem Altwerden, beeilen wir uns, zum Ende zu gelangen. Dieser Augenblick kurz vor dem Tod, in dem nichts mehr geschehen kann, ist etwas anderes als der Todeswunsch, den man den bei Christen findet, die vom Tod das Heil erwarten. Es ist wie eine Bewegung, mit der man seine Existenz dem Punkt entgegenschleudert, an dem sie nur noch die Möglichkeit des Todes vor sich hat.“

…etc.

(‚L’ethique du souci de soi comme pratique de la liberté’/ Gespräch mit H.Becker, Raoul F. Betancourt, Alfred Gomez Müller/ Jan. 1984, erschienen 1994 erstmals in Dits et Ecrits, Schriften in 4 Bänden.)

Let’s go back to school and restart to learn better and healthier… Begriffe und mehr od weniger grosse Wissenslücken von Autodidakt MJS zum Googeln: Stoa, Ethik als Bedeutung vs. Moral … usw., die Römer interessieren mich wenig bisher …. )

….

 

 

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