fiktives Interview mit MJS zum „Glaubenssatz“ und Schreiben

Jeanne Stürmchen: Marion! Da ich das von dir erfundene Ich bin, das Ich auf dem Papier, das lebende, das tote Ich; magst du ein wenig reden/denken, denken/reden?

Marion: Nein. Seit Mitte September kann ich weder denken noch … das heisst zwar, doch: diese Art von Reden, die sich bei mir vor dem Denken ereignet, die kann ich noch… aber schau, wann redete ich je anders? Reden ist bei mir ja doch nur ein Reflex…. ich kann nicht denken…. ich erreiche das Denken nicht ….

Jeanne Stürmchen: Gut, hätten wir das geklärt. Was bedeutet das Nichtdenkenkönnen für deine Arbeit? Du bist ja nun doch dabei, den bald fünfzehnjährigen „Glaubenssatz“ anders zusammenzusetzen … nicht mehr chronologisch …?

Marion: Nichtdenkenkönnen; es bedeutet, dass da einfach Schwarz ist, sobald ich einen dahingesprochenen Satz mit dem Bewusstsein fassen will, nachprüfen, einen Abdruck davon machen, sozusagen …. es bedeutet, dass ich überhaupt nur erahne, was ich überhaupt schreibe.
Im Bezug auf ein Romanmanuskript bedeutet es weiter, dass ich keine Chance habe, den Inhalt als Ganzes zu erfassen. Ich glaube, ehrlich gesagt, dass mir das nie wieder möglich sein wird…. leider kann ich auch keine grossen Romane mehr überschauen…. mein Gehirn ist in kleine fragmentarische Schnippsel zerfallen ….

Jeanne Stürmchen: Nur zur Erinnerung; in der neuen Version vom Glaubenssatz scheinen wir beide nicht mehr als zwei distinktive Ichs vorzukommen. Ich, dein Alter Ego, dein junges, ewig erstarrtes, immer lebendiges, gewesenes, kokettes Du, werde dich am Schluss in einer surrealen Szene also nicht ertränken. Heisst das, dass du mit deinem jugendlichen Ich und dem gesunden Körper, der Materie, dem Ego, dem Narzissmus, dem Drama, der Schönheit, dem Nihilsmus usw. gebrochen hast?

Marion: halt, halt! Mit sovielen Begriffen! Die ja doch …. oh Gott, sich entleert haben. Nein, der Grund, warum ich die Aufteilung von dir und mir im letzten Kapitel nun doch nicht anstrebe, hat lediglich technische Gründe….

Jeanne Stürmchen: technische ….?!

Marion: Richtig gehört! In meiner neuen Version, die-so Gott will – die letzte sein wird, verfolge ich den Grundsatz der Vereinfachung. Du weisst, wie kompliziert, wie komplex ich bin … wie umständlich ich denken muss… weil ich nicht denken kann …. zu welcher Verworrenheit ich neige, weil mein Gehirn Wahrnehmungen nicht filtert ….

Jeanne Stürmchen: Hundert kleine Verzweigungen und Spuren, aber keinen roten Faden, keine Linie?

Marion: ich fühle nicht so! Ich fühle nicht linear! Aber ja, so ist es: die Gleichzeitigkeit von hundert Spuren haben mich immer in die Irre geführt, weil ich jeder Spur folgen wollte. Dasselbe geschah und geschieht noch im Bereich meiner Empfindungen …. das heisst nein: nennen wir sie: Intuimpfindungen….  mit dem Fühlen habe ich es wie mit dem Reden: es sind Reflexe, die mir zustossen…. bevor ich sie mir aneigne….mich in Relation dazu setze ….

Mein Problem war, ich will nicht gerade sagen, mein lebenslängliches, aber doch im Bezug aufs Romanschreiben könnte das hinhauen: erst mit der Distanz kann ich ein unmittelbares Gefühl von Erlebtem, von Mischphantasie, von Spontanerguss und Launen wirklich aus der Nähe betrachten …. diese Nähe, von der ich seit einiger Zeit schwafle; das ist die Nähe, die die Distanz unbedingt braucht, die Abtrennung, um dann so nah und intim wie möglich, das Chaos der Unmittelbarkeit neu zu erschaffen, diesmal als bleibenden Effekt…..

Die Idee, dass du mich, die Autorin, ertränkst, in einer surrealen Schlussszene, gefällt mir immer noch gut. Aber es ist doch so, dass die Glaubenssätze mit uns beiden untergehen. Wir: du, mein junges Ich, mein freches, mein nicht anpassungsfähiges Ich, das Ich, dass sich einen Scheiss um das Wohlergehen anderer Menschen kümmerte, dieses Ich, das mit der Faust drein schlug, gegen alles, was ihrem poetischen Empfinden zuwiderlief, das niemals erwachsen wurde, niemals in Berührung kam mit der Welt…. dieser animalische Instinkthaufen, der glaubte, er würde verzaubern, und ich…. dein spätes Ich, dein kranker Körper…. dein Kadaver…. (So sagt Settembrini im „Zauberberg“: ein kranker Körper ist nur noch Körper…. ist Kadaver) dein Denkenversuchen ….. deine Gewissensbisse….. ich…… gehen beide leer aus…. unsere Motivation, unser Destin ist dasselbe: es ist das OUT des ICHS, das Ende des Subjekts….oder besser: der zutiefst subjektiven Erfahrung und Mitteilung.

Jeanne Stürmchen: Das Ende des künstlerischen Ausdrucks!!

Marion: Ich weiss nicht. Für dich und mich, ja. Für Leute, die diesen radikal subjektiven Anspruch haben, in der Kunst, oder für sich selbst, was weiss ich. Tatsächlich ist es so, dass ich mir wie ein antiquiertes Möbel vorkomme mit meinen Träumen, in der alle Menschen, die mir begegnen, expressiv sein müssen. Dieses Ich, das ich in meiner Literatur verdichten wollte, ist obsolet geworden, ein Ausdruck des Egoismus selbst….. wenn du sagst, ob ich denn nicht mehr diese Sterne vor Augen habe: die Schönheit, den Nihilismus, das Drama….. in GottesNamen nein, ich kann nicht. Ausser ich höre Mahlers Adagio. Ansonsten, schau….. ich bin gezwungen, ein klein wenig Ausschau zu halten nach meiner Umgebung, der nahen und ferneren…..  und was ich sehe von dieser Welt, ERLAUBT es mir nicht mehr, mich gut zu fühlen in meinem subjektiven Ausdruck.

Ich bin alt geworden und verkörpere nur noch Dekadenz. Noch nie fühlte ich mich mich so …. ernüchtert. Aber so fühlen sich wohl die Alten, oder nicht?

Jeanne Stürmchen: Ich kann dir nicht ganz folgen.

Marion: Ich kann nicht denken. Und weiss nicht mehr was du wissen wolltest.
Was könnte die Aufgabe von mir sein? Angenommen: ich wäre gesund, ich wäre nicht ich?
Es müsste eine Aufgabe sein, die einen Bezug schafft zur Aussenwelt, statt ihn abschafft mit eben den Möglichkeiten, mit denen ich ihn schaffen wollte: mit meinen ureigenen Mitteln!!!!!!

Es müsste eine Aufgabe sein, diesmal, die ich mit andern zusammen erledige, eine Arbeit an der Basis. Selbstversorgung…..

Jeanne Stürmchen: Glaubst du nicht, dass du schreiben könntest, ohne durch dich zu schreiben? Frei von deinem Blickwinkel, deinem Körper, deinem Gefängnis?

Marion: Nein…. ich wüsste nicht, wie das geht…. ich weiss nur, dass man heute nicht mehr ÜBER SICH SELBST SCHREIBT, WEIL DAS ÜBERHOLT IST…. so, wie man heute nicht mehr Landschaften in Öl malen kann wie die Impressionisten, so kann man nicht mehr Ich sagen…. wirklich Ich …..schon gar nicht kann man sagen: Ich, wenn man von hier, aus dem verfressenen Westen kommt….wenn man nichts zu sagen hat…. was einen eher kleidet wäre, sich schamvoll zu bedecken, Ausfälligkeiten, Auffälligkeiten zu unterlassen….. eventuell kann man noch schreiben, wenn man ein aktuelles Thema aufgreift, in einem journalistischen Stil…..

Was du aber schreibst, wenn du heute schreibst, muss andere Gleiche, und zwar am besten ganze Gruppen anderer Gleicher, angehen. Es sollte nicht nur dich, und in erster Linie dich angehen. Mit einer solchen Introversion gehst du besser zum Shrink. Oder schreibst deinem besten Freund einen Brief….

Jeanne Stürmchen: die Welt ist am Anschlag und kann das Ich nicht mehr gebrauchen? Das ich, das sich selbstverwirklicht?

Marion: über die Welt weiss ich nichts, nach wie vor. Ich sage nur, dass mir der Blick in die Welt hinaus, die Poesie und den Egoismus austreibt. Die Lust, Selbstausdruck betreiben zu wollen, schwindet. Ich verliere den Geschmack an meinem eigenen Personenkult, den ich mit uns betreibe….indem ich mich hineinverwickelte mit Haut und Haar in meine Arbeit …. indem ich dich erfand….

Jeanne Stürmchen: Wie wirst du den „Glaubenssatz“ noch fertig schreiben, wenn du nur in fragmentarischen Schnipseln denken kannst?

Marion: Ich weiss nicht recht. Ich kann nur auf mein Kurzzeitgedächtnis bauen, mein Kürzestgedächtnis. Andrerseits gibt es da ein paar Blöcke, die ich übernehmen und in den leeren Raum hineinstellen kann; diese Blöcke habe ich in meinen toten Jahren Mitte dreissig fabriziert. So wenig es ist, ist es doch gut, dass ich diese Stoffe habe, denn sie zeugen von einem Drive, den ich einmal besass. Von Obession. Diese Stoffe sind nun die Sonnenblumenkerne, während die neueren Kapitel, die Blätter sind, zwei, drei Blätter ohne Stringenz….. erschöpft…… die ich rund um den Kern anordne…hängend und schlaff.

Jeanne Stürmchen: Wirst du diese Version an Verlage schicken?

Marion: Ich weiss nicht, ob ich das nochmals tun soll. Ich möchte nicht in marktwirtschaftliche Angelegenheiten verwickelt werden. Ein Verlag fragt sich nach der Rendite. Lohnt es sich MJS zu publizieren? Die Antwort lautet nein.

Jeanne Stürmchen: Wie traurig.

Marion: Jein. Ich glaube ehrlich gesagt nicht mehr, dass der Konsument etwas anderes will, als das, was ihm geboten wird. Das Angebot bestimmt die Nachfrage. „Die Zeit des Anderen ist vorbei.“ (Byng-Chul): dieses Zitat bestätigt doch nur, was Sache es: Die Menschen wollen das, was sie bereits in sich kennen, im Anderen erkennen. Sie beklatschen und würdigen das ihnen Gleiche. Das Andere ist ein Fall für den Spezialisten (Zwölftonmusik zb.) oder für den Shrink.
Es sei denn, man ist Kind: Im Kind wird das Andere noch akzeptiert. Bis zu einem gewissen Grad.

Diese Sache mit der Rendite und dem Geld ist aber nicht mein Problem.

Jeanne Stürmchen: Sondern?

Marion: Wenn man viel Zeit und Aufwand in eine Arbeit investierte, möchte man sagen können: ich bin zufrieden, ich habe etwas geleistet. Wie soll man das, wenn man die Arbeit keinen Millimeter von sich Selbst abstossen kann? Schreiben für sich, Kunst machen für sich; ja, das ist das Eine, das befreit. Aber was ich nachher? Wer nimmt einem einen Teil von dem Plunder ab?
Aber wenn schon…. im Prinzip ist auch das egal. Während man schrieb, hat man wohl gut gelebt!

Jeanne Stürmchen: Es wird dich unter dir begraben. Bis jetzt hast du nur den Überblick über die Zusammenhänge verloren. Aber es wird dich unter dir begraben.

Marion: Gut möglich.

(20.10.22)

 

 

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