Erinnerungskiste, Diary


August-Bebel-Strasse, Leipzig, 1998

Ich erinnere mich grad, wie ich 1998 Mitte Oktober in der Leipziger August-Bebel-Strasse ankam, und es war 23 Grad
und dann 2 Monate später gefror der Schnee auf der Strasse, über Wochen hatten sich kleine Eisseen in das Betonpflaster eingegraben, und der Wind war der kälteste u schneidigste, den ich jemals fühlte, mit Ausnahme der Schönhauser Allee Metrounterführung in Berlin
ich wollte damals immer im Süden leben, aber aus paradoxen Gründen landete ich immer im Nordosten,
im Februar 03 kam ich in hochhackigen schwarzen Röhrenstiefeln, die frau damals trug, oben auf der Senefelderstrasse mit meinen karierten Reisekoffer ins Schleudern, es schneite u schneite, ich sah den Schnee steigen, Mich Werthmüller kam mir im schwarzen, üblich brustwallenden Sommerhemd entgegen…und als wir endlich vor seinem Hauseingang angekommen waren, war die Senefelderstrasse unter dem Schnee verschwunden
2005 warf ich vom vierten Stock der Senefelderstrasse mein erstes Manuskript „die Unstillbaren“ aus dem Fenster auf diese tolle Strasse hinab, einerseits, weil es echt bullshit war andrerseits wohl um dem schwarzen Drummer-Engel Mich Werthmüller zu imponieren
etwa ein halbes Jahr später erreichte mich am Hopfenweg in Bern ein Brief mit Absender unbekannt, er (irgendjemand) habe da auf dem Pflaster einer Berliner Strasse ein vollständiges Manuskript gefunden, sowas wäre mir wohl unter südlichen Palmen nicht passiert, dass ein forscher Passant, der durch deutsche Strassen eilt, sich nach einem Manuskript bückt. Der Inhalt blieb glücklicherweise trotzdem bullshit weiterhin
glücklicherweise, weil es peinlich gewesen wäre, wenn der Aufbau-Verlag von Herrn Paschedag diesen Brunz publiziert hätte
ich hab seither ein paarmal einen Blick auf „die Unstillbaren“ geworfen, aber ausser Erinnerungen und ein toller Titel, habe ich noch nicht rausgefunden, wie ich einzelne Passagen doch noch retten könnte.
2006 war ich dann zum zweitletzten mal in Berlin, im Sommer und trank das grösste Bier (einen halben Liter) nachts um Zwei, und zwar in vier Minuten, am nächsten Tag machte ich dann beim „Liebesdenkmal“ aus Stahl auf dem Soundsoplatz beim hyperhypen Prenzl in meinen rosaroten Fischschuppenpumps einen legendären Misstritt. Ich muss das Gesicht verzogen haben, denn jemand ging an mir vorbei und fragte:gehts?(wieder eine deutsche Zuvorkommenheit).
das letztemal begleitete ich den Dichter R.R. 2008 nach Wannsee in die Villa für Schriftsteller. Ich war schlecht gelaunt, sehr schlecht, mein zweites Manuskript „das Geschäft“, das ich mitgenommen hatte, war bullshit, irgendwie sogar bullshitter als das Erste. Die Villa der Schreibenden, in der ja sogar Michel Houellbecq einen Aufenthalt nahm, war völlig leblos u ausgestorben, doch die Wildschweine, die nachts um das Anwesen geisterten u ihre Spuren hinterliessen, haben mir imponiert.
Unvergesslich war der erste Aufenthalt 1994 im Oktober in Berlin mit meiner Schwester. Wir mussten jeden Morgen um 7.30 aus der Jugendherberge draussen sein. Der Postdamerplatz erglänzte im Tau, eine riesige Fläche aus Wiese und aufgerissenem Bauland. Ich wanderte eine Treppe hinab in das ehemalige Gemäuer Hitler u Co, an den rohen Wänden waren die Fotografien der ermordeten Juden aufgehängt….es war eindrücklich, viel eindrücklicher als später das Stelen-Denkmal. Das hab ich nie begriffen, dass die den Potsdamerplatz nicht einfach als unantastbare riesige Wunde der Erinnerung so belassen konnten…und die Ruinen des Bösen durch riesige Kinokomplexe ersetzten.
Als wir bei Minus fünf Grad nach Potsdam fuhren, streckte meine Schwester die Zunge gegen das mit Reif beschlagene U-Bahn-Fenster aus, und ich musste furchtbar lachen. Meine große Schwester konnte damals noch verdammt lustig sein in ihrer riesigen blauen Mütze. Und ich konnte trotz des wahnsinnigen Frierens und Schlotterns durch das dünne schwarze Mäntelchen noch lachenm In der Bergmannstrasse bei Kreuzberg schmissen wir uns in die auf offener Strasse ausgesetzten Sofas und verdrückten den lauwarmen Döner mit Highlight Rotkraut.
1996 war ich im Friedrichshain und wurde nachts von ein paar Randalierern aus einem Spunten mit lauter Punks verfolgt. Ich war nachts um vier einfach in den Spunten hineingelatscht, aus purer Neugier. Da sie nicht aufhörten an meine Wohnungstür zu schlagen, kriegte ich Schiss und rief mit aller Kraft aus dem Fenster (im wievielten Stock?) nach Hilfe in diesen typischen Berlinischen Innenhof hinein.
In der Schönbergerallee spielte ich zu dieser Berlin-anrüchigen Zeit die Julia Andrewjewna von …von…Tschechows Onkel Wanja? Etwa einen Tag lang spielte ich saugut, aber eben hatte ich nach zwei Wochen keine Lust mehr auf den Schauspielkurs und spielte dementsprechend schlecht, so dass wir sogar Rollen abtauschen mussten. (8.10.2020)
unweit der August-Bebelstrasse 1998

Komponist u Drummer Wertmüller Ende der Neunziger in seiner Pose
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