Fluch der Biografie_4.5.24 ‚Das einzige Ausdrucksmittel des Lebens ist das Leben selbst‘

4.5.24, Samstag

Trübes Wetter, tranig. Saharastaub, Feuchtigkeit, Kalttropfen. Keine Sonne, die steht im Knisterblau wie ein Teaserauge. Nur Wolken, Geschmiere und dazwischen verdorbenes Gelb, so heiss und feucht wie klebrig vergorene Milch.

Wenn es schön ist, bringt einen das Wetter zum Weinen, ganz sicher. Denn es erinnert einen dann an alles andere, was schön war, zum Aufbauschen schön. Was war das? Hm. In meinem Fall war es die Erwartung! Die Möglichkeit, die Stimmung zu nehmen und etwas Diffuses aufzubauschen, genau! Und also der geheimnisvolle, magische Input, der aus dem Licht der jeweiligen Stimmung hervorging. Das Drama kristallisierte sich in den Farben, formierte sich kräftig neu.  Während es bei wolkigem Himmel überhaupt nicht existiert. Das Verständnis fürs Drama. Ein schöner Sommertag; so viele Jahre beknuspert er mich mit Melancholie. Die Melancholie des quasi endlosen Abschieds (durch eine Erkrankung ohne Anfang und Ende).

In meinem „Verschwinden“ bin ich bald geizig geworden mit üppigen Sätzen wie ein Buchhalter oder Rosinenpicker mit den Budgetfragen. Ich muss  die Sätze kurz halten. Und die richtigen Sätze heraus pflücken. Wo ist es vielleicht knapp Literatur? Und wo bloß Biografie oder Übergang?

Ein weiterer Versuch: mich zu strukturieren mit kleinen sinnlosen Taten. So durch den Tag kommen. Besonders an den Wochenenden. Ich bin nicht fertig mit dem „Verschwinden“. Aber nach wie vor kann ich nur noch an Tagen schreiben, die sich  energetisch richtig zusammensetzen.  Weil ich diesen Flow, diese ausserodentliche Spannung dazu benötige, physisch, wie psychisch. (Die Möglichkeit, dramatisch aufzubauschen, wo nichts ist?)  Ich habe immer mit dem ganzen Organismus geschrieben. So wie Ludwig Hohl, der ja bekanntlich Klimmzüge machte, in seiner Kellertüre. Ich mache immer noch Training. Auch als Krüppel. Damit die Spannung immer wieder abrufbar ist. Dieses zerzauste, höchst angespannte Saiteninstrument in mir. Das allein meinem Schreiben dient. NEIN. Aber das Schreiben dient dem Leben. NJEIN.

Und Kertesz sagt: „Das wahre Ausdrucksmittel des Menschen ist das Leben.“ JA.

Mein physischer Zustand, mein Leben: Ich bin sogar fähig, eine mittlere Runde zu gehen, drüben im Reichenbachwald. Nach Stoppuhr. Ich kann sogar zügig zwanzig Minuten gehen. (bevor ich wieder stundenlang liegen muss). Fast wie anno dazumal. Aber dann kommen Tage, in denen die ME so zuschlägt, wie immer. Und ans Aufstehen ist dann nicht zu denken. Es scheint mehr Dynamik im Ganzen. Ich habe heute Halsweh und Fieber. Dies ist aussergewöhnlich, da der Körper bei ME dazu selten in der Lage ist. Das Immunsystem blockiert den Ausbruch. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass die IHHT mein Immunsystem trotz allem etwas stärker macht.

Und jetzt zum psychischen Rest od Restorganischen: Diese Substanz ist wiedererwacht, nach vielen Jahren des physischen Kämpfens und des physischen Überlebens. Ich bin nun wieder, seit Ende der Pandemie, etwa, mit meiner Gefühlswelt konfrontiert. Die sich gebärdet wie ein jähzorniges Kind. Ein Kleinkind, das man lange dazu zwang, ein Bad zu nehmen. Kopf unter Wasser.

(Ich habe in einem Kapitel meine Psyche für tot erklärt, damals zwang mich die Entkräftung aller Organsysteme dazu inkl der hormonellen. Das war 2015. Dieses Kapitel: Ende der Homöostase habe ich in der neuen Version von „Verschwinden“ in den mittleren Buchteil eingebaut. Mal sehen …)

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Bla: Nun ist es schon bald ein Jahr her, dass mich hier einer anordnete, mein weisses Kleid auszuziehen. Aber mehr kann ich an dieser Stelle darüber auch nicht erzählen. Es ist verrückt: wenn mich etwas berührt, und ich über etwas schreiben möchte; dann immer, weil es akut ist. Organisch akut. Und das sind immer, fast immer Begegnungen mit Eros.  Immer nur die privatesten Dinge also.

(Od kann Eros auch unpersönlich sein? Schaut man bei Tinder vorbei, dann ist die Vorbedingung dazu, nicht persönlich zu sein. Der gängige Vermerk: bitte nicht lange reden, sofort treffen eine Kosteneinsparphrase.)

Diese privaten Dinge fingen aber doch an, mich zu stören in meinem Roman; die Enge der Privatheit. Dieses urtypisch Weibliche. Wirklich immer noch keinen Zugang zu einer Idee jenseits vom sinnlich Erfahrbaren. Ein Fluch, der auf mir lastet.

Es ist, als wäre ich in eine Welt hinabgestossen, in der es keine reine Menschlichkeit mehr gibt, keine Schönheit. So kommt es mir also  seit etwa zwei Jahren vor, auch wenn ich mich für meine Wahrnehmungen nicht verbürge. (da wäre zuwenig Objektivität). Das Absinken begann, seit C. mich verliess. Und es intensivierte sich mit der Pandemie und der zunehmenden Grausamkeit in der Welt. Dies kann alles reiner Zufall sein, denn Zufälle können durch dumme kleine Launen ganze Kettenreaktionen in Umlauf setzen.

Im Verlauf meiner Erkrankung, die politisch nicht existiert, aber mein ganzes Leben bestimmte, habe ich verstanden, dass alles Politik ist. Dass ich, meiner Privatheit zum Trotz von Politik betroffen bin. Und ihren Entscheidungen respektive unterlassenen Hilfeleistungen getroffen bin. (keine Fördermittel, keine Therapie für ME., keine Strukturen. Ein Leben im Unglauben, im Unsichtbaren.)

Aus purer Beziehungslosigkeit und Einsamkeit hänge ich also auf digitalen Plattformen herum, wo man vermessen wird, statt erkundet, und erfahre noch mehr Beziehungslosigkeit. Das Problem ist, dass ich auch dort, wie hier, meinen Monolog weiterführe und Vertraulichkeiten  preis gebe. Weil ich nicht verstehe, dass mein Wort jemand auffangen könnte. Die Konsequenzen nicht einbeziehe, weil ich schon selbst glaube, dass da niemand ist aus Fleisch und Blut. Dort, am anderen Ende des digitalen Tunnells. Diese Profile nehmen nie Gestalt an, geben nichts von sich preis. Man gorrt: Wer bist du. Und irgendwann kommt es so, dass man dort nicht mal mehr auf sich selbst achtet. Man hält sich selbst für ein virtuelles Phänomen, ein Chatt, den es thrillt, den Menschen wegzudenken u Grenzen zb. des eigenen Tons zu missachten.

Ich wollte mit einem echten Menschen über die Dinge reden, die seit der Pandemie passiert sind. Aber ich habe keinen gefunden. Nicht mal gegen Geld. Jahrzehntelang habe ich die Dornhaftigkeit meiner sozialen Interaktionen nicht wahrgenommen. Ich habe in einer Blase, einem Elfenbeinturm, für mein Schreiben, meinen Rausch: die Aufrechterhaltung der Homöostase gelebt. Und genau, in dem Moment, als das Erwachen drohte, die Homöostase einbrach, ich war Achtunddreissig, als es Zeit gewesen wäre, etwas Neues, Anderes auf die Beine zu stellen, neben dem Schreiben; da schlug die ME richtig zu.

Ich erinnere den Tag, an dem mein Bauchraum ertaubte. Als würde ich in einem Schlamm versinken bis unters Kinn. Das war das eine Letztemal, als ich an meinem grossen eichenen Schreibtisch sass, 2016, das letztemal Einemal, dass Sitzen für mich eine echte Option war. Ich warf mich vom Schreibtisch auf das Sofa, mit einem Schrei der Verwunderung und des Entsetztens. Ja, so war das. Neverevermore. Raven.

Und dann, weil die ME so ist, wie sie ist- brutal beschneidend- wollte ich einfach noch einmal Liebe machen, bevor … und habe diesen jungen schönen Mann an der Uni als Besuchsdienst gekauft. Auch etwas, das man sich heute eher nicht mehr vorstellen kann. Ich aber schäme mich. Wie kann man Bedürfnisse einfordern und die Einschränkungen einfach missachten, die Krankheit als Schuld einem aufzutragen hat?

Ich hielt mich im Türrahmen fest, als N. ging. Dieser Moment, der die eine Wirklichkeit von der andern trennte, den habe ich psychisch schlecht toleriert.

Ich gewann meine Kontrolle wieder zurück, realisierte mich allmählich als Krüppel. Und dann kam C.  Weil er selbst CFS (nicht ME) hat, verstand er diesen einen Aspekt.

Mit C. gab es diesen Moment, ganz am Anfang, als ich noch dieses Gefühl von Ganzheit besass. VON SELBSTSEIN.

(Folglich auch als Schreibende) Nicht, weil C. mich ganz gemacht hätte. Neinein. C. war ein Teil meines jugendlichen Elfenbeinturmes. Ein Vakuum, das beendet wurde. Durch die Umstände. Und, klar: durch Einsaufsdachkriegen.

Und nun das. Als ob es neuerdings nicht mehr lohnen würde, den Mist auszudrücken. Als ob es nobler wäre, auf den Kanälen die verrohten medialen Ereignisse aus den Krisengebieten zu „konsumieren.“ Und daraus schlau zu werden. Diese Ereignisse aus einer Welt, die immer anorganischer wird. Eine richtige abgefuckte Sache.

Ich habe trotzdem mehr erwartet von den zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich der Tunichtgut. Mehr Bewegung, Vibration, Dichte, Komplexität, Hingabe, Subversion, Intellekt, Magie, Aura …ich habe nicht Sympathie erwartet, ja, nicht mal Empathie …. aber Gesten, die ich lesen kann!

Auch darum den Tag strukturieren. Wegen dieses Fehlens. Die stupiden Einzelheiten wahrnehmen und zu vermerken. Da alles Stupide, Grosse, Essentielle mir entglitten. Aber beim Aufräumen, weiss ich oft nicht, wie. Es kommt ja eh alles weg. Ist es wichtig, ob jetzt, oder dann? Und vieles werfe ich dann einfach weg. Anderes kommt in Schubladen. Aber was ist da der Sinn? Ob es von einem Behälter bedeckt oder offen einsehbar?

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Als ich weg aus Brügg war und hier ankam, fühlte ich mich leicht, fast — weil der Schmerz in Brügg, der war für mich wie Waterboarding. (ich habe es gesagt). In einer Liebesgeschichte ist man keine Randfigur mehr, man erlebt sich als ganz, in der Liebe für den Andern.  Man erlebt sein Ich ohne Spaltung. Und  im Eros kriegt man alles….wirklich alles  geschenkt…. es gibt kein Entweichen. So wie zb. in der Sprache ….

Erinnere mich, wie ich mit etwa Achtzehn, in der Bibliothek des Gymnasiums am Fenster sass und für eine Geografieprobe büffelte. M. hatte mich verlassen, diesmal endgültig. Und alles, was ich denken, was ich an Gedanken aufbringen konnte, war dies: ‚Es ist vorbei. Gewesen. Und ein ganzes, riesiges Leben ohne M. liegt noch vor mir. Ist noch nicht vorbei. Aber dies, es ist GEWESEN. GEWESEN. GEWESEN.‘ Der Gedanke erschlug mich wie eine Betondecke. Die Länge und Sinnlosigkeit eines Lebens ohne M., den Zauberer. Dies könnten die Gefühle der ersten grossen Liebe sein.  Mein Leben immer irgendwie prekär u final zu wissen, machte die Trennung von C. viel dramatischer, als wenn ich irgendwo das Gefühl kennen würde: im Leben gibt es mehr als eine Chance.

Ich war also hier her geflohen, weil ich musste.

… Ich nannte dies nicht von Anfang an Sickhouse. Aber mehr kann ich darüber an dieser Stelle auch nicht sagen.  Meine Traumas haben plötzlich stark retroaktiven Charakter. Niemals hätte ich meine Erfahrungen, die frühen, zb., unter dem Gesichtspunkt einer Autismus-Spektrums-Störung betrachtet. Vielleicht hätte ich dann eingesehen, dass diese Wand wirklich nicht niederzureissen war und ist. Weil alles Komische muss den Rand bewohnen.

Meine Grunderfahrung ist, dass man nicht mit mir kommuniziert.

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Dabei ist alles, was es über den Anderen (das weisse Kleid) und mich zu erzählen gibt tatsächlich belanglos. Wie kann ich diese Belanglosigkeit in einem Roman ins Schlusskapitel setzen? Wo die vorhergehenden Teile vom Überleben mit der Krankheit und dem Durchwursteln im Schulsystem erzählen? Wie kann ich einem so Zufälligen dieses Denkmal setzen? Offenbar kann ich nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was wirklich wichtig war, für mein Leben, und dem, was nur noch Wiederholung und Bagatelle ist.

Eine Metapher kann das Verhalten eines Mannes sein für alles andere. Das ich nie erreichen konnte und kann. Eine Metapher für Beziehungslosigkeit. Aber gleichzeitig für Leben. Paradoxerweise.

Tieferes, Näheres. Engeres zwängt sich in Wahrnehmung, die radikal ist, halluzinatorisch, verdreht. Und für die ich nicht mehr bürge. Seit ich nicht mehr grüsse. Ich habe in diesem Frühling ein paar Ausflüge machen können, und mich darüber aufgeregt, dass der Akku meines Behindertenscooters bereits nach zweieinhalb Stunden den Geist aufgab. Dies, nachdem ich lange Jahre nie länger als eine Stunde aufrecht sein konnte.

Die Sonne ist so selten, aber wenn dieses Licht ist, richtiges Licht, dann bin ich so bewegt wie Camus Mersault. Mein Ausflug in den Löhrwald prägt sich mir ein wie ein surrealistisches Gemälde. Selbst Pusteblumen sind silbern, nicht einfach weisser Schaum. Es ist alles, bis auf das Gras, verzaubert durch eine Stimmung, die nicht von mir kommt.

Dann kam ich heim, an diesem Sonntag um Ostern, nach dem Ausflug. Und war wieder hier, in dieser auswegslosen Sackgasse.

Wenn auch ich mich auf ein funktionales Leben hätte einspielen können. Ein Leben, das dem Nutzen dient und dem Nützlichen. Am Leben meiner Eltern und Grosseltern konnte ich früh sehen, dass das funktionale Dasein alles ist. Und dass kein Platz ist für Träumereien. Vielleicht auch darum wuchs in mir dieser blöde Zwang, all diese Belange zu ergründen, die keinem einzigen Zweck dienen. Dieses fatale Streben nach dem vollkommeneren Selbst._

 

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