Briefe eines jungen Frisörengehirns an den Psy. (2000)

25.10.2000

 

Sehr geehrter Herr Doktor,

                                                                                                    

Haben Sie’s schon erfahren? Aus meinem Arztsekretärinnenkurs ist nichts geworden. Schuld daran ist wohl das *Taxpunktesystem und nicht meine krankheitsbedingte Abwesenheit. Nun geht es in einem nächsten Schritt darum, meine beruflichen Eignungen als kaufmännische Angestellte neu zu beurteilen und insbesondere meine logischen Fähigkeiten einmal genau unter die Lupe zu nehmen. All das geschieht in einem Beschäftigungsprogramm, das ich am kommenden Dreissigsten beginne. Da dieses Beschäftigungsprogramm unter anderem vom Ihnen eingefädelt worden ist, verstehen Sie sicher, wenn ich unseren Termin vom Neunundzwanzigsten auf unbestimmte Zeit verschiebe.

Auch ganz andere, teilweise gravierendere Beschäftigungen, Gefühle und Gedanken, die mich zurzeit sehr beschäftigen, müssen verschoben, hinten angestellt werden, bis auf Weiteres: A: Dass ich lieben will mit einer Art leidenschaftlicher Intensität. B: Dass ich leben will und nichts und niemand mich einschränken oder und aufhalten soll, in meinem Bestreben mein Leben zu leben, so wie ich es will. C: Dass die Arbeit respektive mein zukünftiger Erwerb dieses Leben jedoch zerfasert und in kleine Stücke zerhackt, indem es mir einen massiven Teil an Energie für fremdbestimmte Zwecke abzweigt, als wäre ich eine Zapfsäule. So dass mir diese Energie und Kraft für das Andere, das WAHRE, nicht mehr frei zur Verfügung steht.

Lohnt sich der Aufwand dieser Kraft? Lohnt er sich nicht? Ist er deckungsgleich? Oder werde ich am Ende, insbesondere, physisch, bezahlen müssen? D: Dass mein Herz, dieser kleine motorisierte Zwerg kontrahiert. E: dilatiert… F: aussetzt. G: Oh Wunder! H: Dass ich unter dem Umstand meiner Sterblichkeit gar nichts mehr machen kann, nein, rein gar nichts! I: Dass mir ein Psychiater bei all diesen Gefühlen und Gedanken, die ich hiermit noch einmal hervorzaubere, aber ab sofort in die Schublade stecke, nicht helfen kann.

So sind die elementarsten Dinge noch nicht geregelt, wenn ich am kommenden Dreissigsten mein Beschäftigungsprogramm anfange, zu fünfzig Prozent, Arbeitstage: Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag – puh! – und  man mit einem passenden Eignungstest hoffentlich herausfindet, ob in mir drin noch irgendwelche Fähigkeiten stecken, die man nutzen kann.

…. KLMNOPQRSTUVWXY … Z… Herr Doktor: Z!

Freundliche Grüsse

Jeanne Stürmchen

 

(2000, The Bordi-Collection)
* Kosten zur Errechnung des Honorars einer ärztlichen Leistung zusammengestellt aus Taxpunktewerten



(Spätadoleszenz, unnütz, vertrödelt, vertan)

 

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