Auszug Glaubenssatz_Kap._6_21 (zum Video)

Ich lief mit dem  Zuber über die Strasse, kletterte über den Zaun und warf den Zuber in einem Anflug von Irrsinn in die Luft. Dicke Schneeflocken rieselten jetzt wieder am Himmel durcheinander. Ja, war es denn möglich?! Die Maus kauerte angeklebt in der Ecke des Zubers, der unbeschadet auf dem Erdboden gelandet war.

Ich griff nach dem Haushaltspapier, das ich dem Zuber unterlegt hatte und hob das kleine Mäusegewicht ins Gras. Obwohl ich die Maus nicht berührte, schauderte es mich. Es kam es mir vor, als spürte ich das wenige Leben der Maus, ihre Wärme, ihr Elend wie ein Abdruck auf meiner Epidermis. Tränen liefen mir plötzlich übers Gesicht. Ich war so dämlich durchlässig und musste dringend etwas essen. Langsam schlenderte Mogli auf uns zu und betrachtete sein Spielzeug mit gelangweilter Ambivalenz. Würde er das Mäuschen töten oder sich mit ihm zu Tode vergnügen, ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Was sollte ich ihr nochmals versuchen, ein Nest zu bauen!? Eben hatte man mir von der Tiernotzentrale erklärt, eine Maus, einmal angegriffen von der Katze, gehöre der Katze! Oder aber dem Schicksal! Sicher nicht dem Menschen! Für diesen ist die Maus nur ein Ungeziefer, ein Räuber auf dem Feld, ein Verursacher von Pandemien und vielleicht noch ein Übername für einen fleissigen, aber grauen Menschen.

„Eine graue Maus. Das bedeutet unter uns Menschen, wenn eine Person unscheinbar ist, weißt du.“ Fing ich stotternd wieder an. „Wenig vorlaut, die nirgendwo auffällt, sich duckt. Dann gibt es noch die Maus als Kosenamen für eine liebe, aber leicht beschränkte Frau. Auch ich wurde vom einen oder andern Pinson mit diesem Kosenamen beehrt. Und dann, Liebes: die vielen Versuchsmäuse! Denke! Millionen davon, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Von ihnen wird angenommen, dass sie nur grau fühlen, weil sie in den Augen der Menschen alle gleich aussehen, auch von Aussen; grau. Ich meine, ja: wer weiss schon, was so eine Maus in ihrem Innern fühlt! Also ich weiss es nicht. Ich glaube, in deine stecknadelgrossen Augen Furcht zu sehen. Aber wer sagt mir, ob das nicht meine eigene Furcht ist, die ich da auf dich übertrage? Wir sind beide in einer ähnlichen Lage. Obwohl ich vielleicht diesen künstlichen Schutz habe, als Wilde in einer geschützten Wildnis, geht es doch uns beiden an den Kragen!

Sicher, sie sagen, dass sie sich um die Schwachen sorgen, ja, gerade in dieser speziellen Situation, da draussen. Sie sagen: zum Schutz der Schwächsten, deswegen haben sie die Grenzen ihres sozialen Käfigs nun so eng gezogen. Glaubst du das denn, Sun-Queen? Weil ich, ich habe eine Frage an dich, Kleines! Eine Frage, die kannst du mir vielleicht noch beantworten, ehe dich Mogli ins Nirvana befördert:  Angenommen wir haben da einen Baum. Er ist aussergewöhnlich alt und üppig. Er beherbergt Vögel und andere Kleintiere wie Mäuse, Eichhörnchen und sogar Marder. Doch trägt er auch eine kleine faule Stelle an sich, die eventuell wachsen könnte; muss man nun alle üppigen, langlebigen Bäume zurückschneiden wegen der Gefahr, die von dieser einen faulen Stelle ausgeht? Was meinst du? Sind die gesunden Arme eines solchen Baums nicht stark genug, um die kranken Arme zu tragen? Die kranken Arme könnten in den gesunden Armen verschlungen sein, wie umgekehrt, die gesunden Arme ihre Perspektive und Position den kranken Armen verdanken, die sie flankieren. Ich meine, die gesunden Arme sind in der Überzahl, sie brauchen sich nicht zu fürchten vor den kranken und schwachen Armen, sie brauchen sie nicht zu bekämpfen. Oder sehe ich da etwas falsch?

Weil im November sind sie gekommen und haben den Baum bis auf sein Skelett zurück geschnitten, fast. Ich bin dann raus und auf den riesigen Berg an Ästen und Kleinholz gestiegen, die den mächtigen, kahlen Stamm umgaben wie ein Kranz. Ich sammelte möglichst viele Äste ein, von denen mir einige in den Händen zerbröselten. Andere waren stämmig, mit Moos bewachsen, überzogen mit Flechten und Misteln. Tannzäpfchen hingen in einigen drin wie Trauben, jeglichen Alters: hellbraune, noch frisch und verschlossen, überwinterte und mehrjährige, spröd wie dunkelbraunes Laub. Solche mit einer grünen und weissen Schicht überzogen, Faule und Verpuppte. Ich habe mit den Ästen die Möbel in meiner Wohnung belegt, in der ich jetzt eine Fremde war, seit Pinson mich weghaben wollte.

(2021)

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