Aus meinem Testimony

…. Und nun ist diese Geschichte, ist dieser Mensch verschwunden, so, wie ich daran bin, zu verschwinden, wie die vielen Menschen, auf deren Verschwundengehens-Erkrankung heute aufmerksam gemacht wurde, verschwinden. Und dann: all die andern. Ich habe am Anfang gesagt, dass es viele Arten des Verschwindens gibt. Es können einzelne Menschen verschwinden, Tiere, Menschengruppen. Die Verschwindenden können unter den Blicken von Zeugen verschwinden oder ohne, sie können verschwinden, während die Zeugen wegschauen. Oder aber man lässt sie, die Verschwundenen, ganz einfach verschwinden. Man nennt dies Verschwindenlassen. So gibt es in Lateinamerika einen internationalen Tag der Verschwundenen, an dem den zirka Neunzig Tausend Verschwundenen Mexikanern und achtzig Tausend Kolumbianern gedacht wird, die seit Zweitausendundsechs spurlos verschwunden sind.

Was mit diesen Verschwundenen passiert ist, was sie angestellt haben, damit man sie verschwinden liess, staatlich, versteht sich, weiss wohl niemand. Aber ist ein Mensch einmal verschwunden und um die Ecke gebracht, ist der dem staatlichen Schutz entzogen. Über einen verschwundenen Menschen heisst es auf der Website zum internationalen Tag der Verschwundenen: „Eine verschwundene Person ist, solange sie verschwunden bleibt, ein Rätsel. Der Verschwundene passt in kein Raster, ist ein Mensch ohne Materie.“

Ist es da ein Wunder, wenn die Angehörigen eigenhändig losziehen, um in Strassengräben und Kanalmündungen mit Axt und Hacke nach den Überresten ihrer verschwundenen Kinder oder Eltern zu suchen? Wer ein Kind, einen Freund oder Elternteil auf diese Weise verliert, kann niemals Abschied nehmen, weil er nicht weiss, ob die verschwundene Person noch lebt, zum Beispiel eingesperrt in einem Lager, oder ob sie längst tot ist, nachts von Banden an den Rand eines Felds gekarrt, erschossen und an Ort und Stelle vergraben. Niemals, bis zum eigenen Tod, niemals kann der Angehörige sich von dem Freund verabschieden, der spurlos verschwand, immer hofft er. So geht systematisches Verschwindenlassen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weit verbreitet bis zu heutigen Tag.
(1.6.22).

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