Prosa_Grossvaters Mythen, überarbeitet

Grossvaters Mythen

Fritz hat heute seine Zähne nicht drin. Wir merken es erst beim Pressieren auf die Busstation. Keine Zähne drin, aber dafür wie immer den verschnörkelten Spazierstock dabei.
Fritz nimmt riesige Schritte. Er hat nicht nur grosse Angst, dass wir den Bus verpassen. Er muss mit dem Spazierstock ganz einfach so weit wie möglich ausholen. In der Zukunft!

Der grösste Teil von Fritz‘ Leben ist vorbei und also Vegangenheit. Dies Vergangene in etwa so: Aufgewachsen auf dem Bauernhof, als Ältestes von sieben Kindern, zwei bereits vor dem dritten Lebensjahr an der Diphterie verstorben. Noch auf dem Bauernbetrieb seines Vaters Eintritt in die Firma Rieter, ist er dort bis zu seiner Pensionierung 1978 für die Instandhaltung der Kammgarnmaschinen zuständig. Übertrag aus dieser Zeit: ein von der Arthrose kaputtes Knie und Hüfte, Fingernägel wie Kalkschnäbel und ein Gold gerahmtes Diplom, das Fritz von der Firma Rieter für seine lebenslange Treue zum Abschied bekommen hat. Es hängt im Flur in Fritzens Garderobe an der Tapete, wenige Zentimeter neben dem goldigen Haken, an dem auch der Spazierstock hängt, zumindest seit er ein einziges im Schirmständer landete. Keine Ausnahme bestätigt die Regel.

Obwohl Fritz ein ängstlicher Mann ist, ist er doch ein grosser Mann. Besonders in der Feuerwehr. Da macht er an vorderster Front mit, zumindest fehlt er auf keiner Übung. Während eines Chilbifests lernt Fritz seine zukünftige Frau, Maria, kennen. Maria ist keine ausgeprägt schöne oder stolze Frau, dafür sittlich und sauber. Falls du es nicht weisst: das sind die weiblichen Tugenden der damaligen Zeit, so wie es heute heisst: sei unkompliziert und attraktiv. Wobei mit Sauberkeit natürlich auch das Wortwörtliche gemeint ist: eine Frau, die den Boden scheuert, das Parkett bohnert und dem Fritz das Verknüpfen der Schuhbändel abnimmt, insbesondere ab dem Tag seiner Berentung.

Du denkst vielleicht, wenn ein Mann seine Schuhe nicht selber bindet, spricht das für eine komische Rollenverteilung. Ein Relikt, vergangen vor Tausend Jahren! Aber selbst, wenn sie vielleicht keine höhere Töchternschule mehr besuchte; schau mal deine eigene, früh verernstete schöne Mutter an! Sie, die Fritz beim „Pröbeln“ versehentlich entschlüpft ist. Zwei Jahre später dann drückt die kleine Lydia, blond gelockt und blauäugig, ganz der Fritz, gerade mal den Türgriffel zum elterlichen Schlafzimmer nieder; da löst sich die Experimentierfreude von Fritz anstrengungslos in einem zweiten Nachkommen auf. Vorname: Fritzli Junior, Zweitname: Der-Nie-lacht. Kurze Kindheit, mit Dreissig ergraut, schwerer Tinnitus, Abwart aller Siedlungen in Rohrschachhausen.

Die wichtigesten Punkte in Fritzens Leben haben wir jetzt durch: die harte Bauernjugend, das Montieren von Maschinenteilen unter anderem auch auf Montage in Italien, ein sauberes Frauchen, Abnützungsprozess der Knochen und Krallen, die nie brechen. Ach ja, die Kinder,  „erpröbelt“ (Lydia, die Verenstete)  und „in Verlegenheit“ , also in einem „Augenblick der Überraschung“ (Der-Nie-lacht) gezeugt. Zeitgenossen, die ihrerseits aus der Mitte der Disziplinargesellschaft entspringen, und die etwas dagegen einzuwänden haben, dass Fritz seine Selbständigkeit so beispiellos aufs Spiel setzt.

Liegen ihrem Vater fast zwei Dekaden in den Ohren, er soll sein Hüftgelenk endlich operieren. Funktionalität ist schliesslich oberstes Gebot! Aber Fritz will eben nicht! Für ihn bedeutet Pensionierung eben noch Pensionierung! Abgesehen davon kann eine Operation am eigenen Körper eben auch einen unberechenbaren, gefährlichen Ausgang nehmen. Ich habe ja schon gesagt, dass Fritz ein Schisser ist. Ich weiss nicht wieso, tippe aber auf Folgendes: Der Krieg klopft nur an Fritzens Türe, klopft und klopft, betritt aber nicht sein Haus. Fritz hat auch nach 1945 nichts persönlich verloren. Klingelt jemand an seiner Türe, öffnet er diese trotzdem nicht. Fritz hat einen Feind, der in der Imagination lebt.

Mit seiner Pensionierung sieht Fritzens Alltag so aus: Normalerweise schläft er unruhig und holt gegen halb Fünf die Butter aus dem Kühlfach. Nur so haben er und Maria zwischen halb Neun und Neun einen weichen Brotaufstrich als gelungenen Einstieg in einen von Zukunft bedrohten Tag. Den Vormittag verbringt Fritz auf seinem unbezogenen Hocker in der Küche und schaut aus dem Fenster. Das Ein- und Ausgehen der Einkaufsfrauen vom Block nebenan und rundherum interessiert ihn. So hält er den Sturz von Frau B. auf dem Bordstein über das Hinterrad ihres Boogies in seinem Terminkalender fest. Ebenso notiert er die genaue Wetterlage und die Schmerzlage seiner Gelenke. Manchmal kommen die beiden Enkelinnen, von Fritz, Töchter der Lydia, auf Besuch. Dann heisst es in Fritzens Terminkalender: „erwarte die geliebten Mädchen meiner geliebten Tochter um 12Uhr00.“

Wenn die „geliebten Mädchen“ dann da sind, sitzt Fritz bereits am Esstisch und strahlt über alle vier Backen. Maria, die ihm den Latz umgebunden hat, schöpft ihm zwei grosse Löffel Apfelmuss mit Hörnli in den Teller. Fritz hält den Löffel senkrecht und führt ihn auch so auf seinen Mund zu. Sobald er den Inhalt seines Tellers verschlungen hat, schiebt er den leeren Teller weit von sich in die Mitte des Esstisches, schaut hinüber zu seiner Maria und seine blauen Augen bekommen einen schwärmerischen Glanz. „Sali, mini Maria, mein geliebtes Fraueli, mein sauberes Wäggeli!“ Er tätschelt ihre Hand. Und Marias Gesicht überzieht eine halb ärgerliche, halb verlegene Röte: „Sali min Pappeli, mis Schnäbeli! Du bist mir aber einer….“ Vielwissend geht ihr Zeigefinger in die Luft.

Den Nachtisch lässt sich Fritz dann in der Stube servieren. Während Maria in der Küche den Incarom-Kaffee anrührt, erzählt Fritz seinen „geliebten Mädchen“ vom Sex. Es ist sein Lieblingsthema und immer dieselbe Platte:

Als Erstes kommt die feurige Kommunistin, die sich selbst ein sedierendes Gift in den Kuchen schüttet, um sich Fritz auf legitime Weise gefügig zu machen. Dann kommen all die Frauen aus der Fabrik, Rumäninnen, Italienerinnen, Ungarinnen, die sich ihm an den Hals werfen. Aber Achtung, an der Syphillis sterben rassige und liederliche Frauen wie die Fliegen weg. Er, Fritz, hat sie alle haben können. Aber ein Leben lang nur seine treue, einzig achtbare und saubere Frau geliebt!

Auch an Ostern, Pfingsten und Weihnachten, wenn die ganze Familie da ist, stösst Fritz der Sex auf, wie ein schwer unterdrückbarer Rülpser: Kann es sein, dass sich hier einer brüstet mit Geschichten, zu denen er nie den Mut fand, und die er in ewiger Wiederkehr von sich gibt, solange, bis er selbst an die Umkehrung seiner Lügen glaubt? Er, er hat sich nicht erwehren können! Doch er blieb standhaft. Lydia, die „geliebte Tochter“, auf alle Fälle, lacht ihren Vater bodenlos aus. „Fang nur nicht wieder damit an. Bahhhh! Fang nicht wieder damit an!“ Hanno, der weniger von der Fahrt vom Oberland ins Zürcher Tösstal geschlaucht ist, als von der Arbeitswoche auf der PTT, liegt im Gästezimmer und döst.

Man kann von unverwirklichten Träumen gejagt, von Sorgen über Nichts zermartet werden. Das Rentenalter ist eine gewaltige Stockung in Fritzens Dasein. Jeder Tag bringt eine neue Zukunft, gefüllt mit harten Buttern, drohenden, dritten Weltkriegen und vergessenen Regenschirmen am Horziont. Fast könnte man meinen, Fritz wünscht sich, diese Zukunft wäre immer schon vorbei. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum er das goldene Pendel der Kuckucksuhr in der Stube nicht aus den Augen lassen kann, von seinem Lehnstuhl aus. Paul, der Nie-lacht, vom Tinnitus zu Tode geplagt, sagt: „Komm, ich nehm dir das altmodische Möbel ab, Vater! Du kannst dafür einen Wecker haben. Batteriebetrieben! Und leuchtet erst noch in der Nacht!“

Aber, the Classic: Fritz will eben nicht, was seine Kinder für ihn wollen! Haben Sie ihm nicht auch mit dem Rollstuhl gedroht, wenn er sich nicht vor dem Achtzigsten operiert? Appenzeller Carfahrten macht, statt seine Gelenke trainiert? Weissbrot schlemmt mit Béchamel-Wurst, statt Rucolasalat? „Wenn du dann ein Wrack bist, dann hilft dir auch dein Spazierstock dann nicht mehr!“, hat Paul prophezeit. Aber das war eine falsche Prophezeiung, eine Schwarzmalerei, die gedieh auf Pauls eigenem, zutiefst pessimistischem Mist. Fritz, der Vorzeitige, ist längst Achtzigdrüber, aber auch als Humpler immer noch der Schnellste, wenn es darum geht, einen Bus vorzeitig zu erwischen. Was mit vorzeitig gemeint ist: zehn Minuten zu früh!

Es ist eine Zukunft, die plötzlich schmilzt wie der Erbeerfuss im Hochsommer. Ich meine, der Augenblick, in dem Fritz sein Malheur bewusst wird, er erfasst, dass er seine Zähne nicht drin hat.

Das geht so: Es ist ein warmer Maientag. Und wie jeden Frühling, einmal im Jahr, wollen wir heute auf den Thunersee mit dem Schiff. Das hat sich so eingebürgert bei den Auer-Stürmchens, denn Fritz und Maria, die beiden Winterthurer, kennen keinen andern See, nur der Thunersee ist blau, kein anderes Schiff, nur die „Blümlisalp“ ist weiss, die schönste Dampfere des Berner Oberlands. Abgesehen davon leuchtet der Himmel über der Sichleten und bei Leissigen kullern die Diessbachfälle aus dem Gneis, wie aus versilbertem Siphon.

Ein leises Lüftchen weht, umspielt Marias Kopftuch. Maria hatte einstmals wunderschönes, schwarz gewelltes, borstiges Haar! Wir sitzen in der Zweiten Klasse im hintersten Teil des Schiffs. Ich und Sarah beugen uns über den letzten kleinen Arschzipfel, da, wo die Schweizerfahne flattert und starren wie gebannt ins Wasser, wo sich ein Schaumteppich ununterbrochen rückwärts bis nach Faulensee hinab mit dem Wasser verwebt. Die Dampfere ist sanft, ächzt aber regelmässig. Doch dann, als wir in den Kanal einfahren, verwandeln wir uns plötzlich in einen tiefen, gleitenden Pflug. Wir haben Interlaken, unser Ziel erreicht. Die dampfenden Pferdeballen dringen uns genüsslich in die Nase, als wir hinter dem Bahnhof in die Kutsche steigen. An den  Souvenir-Auslagen, Matterhorn-Postkarten und goldigen Uhren hoch zu Ross vorbei traben. Wenige Minuten trennen uns noch vom heiligen Schnipo, mit dem wir unseren Ausflug jedes Mal im Migros-Restaurant krönen. Keine Ausnahme bestätigt die Regel.

„Los, los! Wil velpassen noch den Bus! Und wenn wil den Bus velpassen, velpassen wil den Intelcity Zülich-Beln-Intelaken! Und wenn wil den Intelcity Züli-Beln-Inelaken velpassen, dann schaffen wil es nicht aufs Schiff! Los, los!“ Fritz‘ Spazierstock bleibt nahezu in der Luft hängen, da vorne, in dieser plötzlich schwindenden Zukunft. Sarah und ich prusten los. „Jesses Maria! Ja, kann denn der nicht einmal selber an etwas denken!?“ Marias wirft einen entgeisterten Seitenblick auf die eingefallene Mundpartie ihres stattlichen Mannes. Dann lacht auch sie.

Wie gesagt, Generationen-Ehen, Ehen allgemein, nehmen komische Wendungen. Bei Maria zum Beispiel rührt sich auch Schadenfreude, wenn sie feststellt, was ihrem Fritz so für Missgeschicke passieren. Fritz, dieser geheimnisvolle, grosse Mann, stolzer Gockel, der zeitlebens keinen Spass auf seine Kosten vertrug, mit den eisblauen Augen und gemeisselten Wangenknochen, dem blonden Haar und griechischen Schnuffel, Fritz; schön, wie Paul Newman; dieser Mann weiss nicht mehr, wo er sein Zahnglas hinstellt.
Ja, ist das denn nicht der Moment, in dem sich das Machtgefälle zwischen Maria und ihrem Fritz endgültig auflöst in Kukident, mitsamt den Fritzen-umrankten Maskulinum-Legenden a Tell?

Maria, das Schürzchen-Früchtchen und saubere, nicht allzu schöne Frauchen bindet Fritz die Schuhe, sie bindet Fritz den Latz, sie entwirrt seine Hosenträger, Maria, sie macht alles, und dann als es soweit kommt, dass Fritz seinen Spazierstock nicht mal mehr an den goldenen Haken hängen kann….. als er ihn überall hinstellt, verstreut, liegen lässt quer auf dem Boden, sie ihn von hinten unter die Arme und von Bett zu Küche schleppt, den jammernden Fritz ….

… bringt sie ihn ins Heim. Hier mutiert Fritz rasant schnell zu Baby, schlüpft zurück in eine unaufdringliche witzige Kindlichkeit. Einmal lacht sogar Paul. Fritz hat in ihm ein zerdrücktes Militärberet gesehen. Aber dass sie ihn ins Heim gebracht hat, das hält er ihr im Sterbebett nocheinmal vor. Um ihr zu sagen, wie grausam diese Tat war; dafür wartet er auf einen letzten, klaren Moment.

Ich muss nicht sagen, dass Maria weinte. Auch wenn sie dann irgendwie erleichtert war. Dann kommt eine Phase, vielleicht vier Monate nach seinem Tod und nur zwei Jahre vor ihrem eigenen, als sie mir sagt: „Weisst du, wir haben es ordentlich miteinander gehabt. Wir konnten gutschieren miteinander. Aber manchmal weiss ich nicht, ob ich ihn wirklich geliebt hab. Oft habe ich das Gefühl gehabt, vor allem, wenn er wochenlang auf Montage war; ich kenne diesen Mann, mit dem ich verheiratet bin, nicht.“

Man kann von unverwirklichten Träumen gejagt werden. Dann ist es für die Erfüllung meistens zu spät.

„Hey Grossvati! Jetzt haben wir genau zwei Möglichkeiten, wie wir vorgehen können!“ Sarah ist wahrscheinlich die Robusteste aus der Linie Auer-Stürmchen. Fritz steht zwar immer noch da, als trifft ihn der Schlag. „Also entweder wir kehren um und spielen den ganzen Nachmittag Eile-mit-Weile, und das wird dann ein ganz langweiliger, lustiger Nachmittag! Oder wir machen jetzt weiter so, wie wir angefangen haben und gehen jetzt aufs Schiff, halt ohne Gebiss! Den Intercity erreichen wir, das ist kein Problem!“

– „Reisen, ohne Zähne?“ Fritz heult fast auf. „Was denken die Leute, wenn Sie mich so sehen? Ich muss mich ja schämen!“ – „Die können dir doch gleich sein.“ Sarah. „Du musst ja nicht reden!“ – „a, aber wie soll ich ohne meine Zähne Schnitzel und Pommes Frites essen? Nein, es geht nicht!“ – „Na, du kannst statt Schnipo doch einfach ein Apfelmuus bestellen, Pappeli, da sieht keiner, ob du deine Zähne drin hast oder nicht ….“ Jetzt wird auch Maria aktiv. Maria, die Supporterin von Fritz. Kann die Zähne zusammenbeissen. Hat schon mal Haare auf den Zähnen. (was sonst eher Stürmchen- statt Auer-Linie)

Ein Classic: Sie hat dann doch zu lange mit ihm gelebt, ihren Sinn in ihm gefunden, um es allein auszuhalten. Sie folgte ihm bald.

Manchmal orakeln wir: schlimme Dinge werden eintreffen, jene, die wir am meisten fürchten. Und dann geschieht es auch. Fritz hat zum Beispiel immer Angst gehabt, einmal werde er auf der falschen Perronseite des Zuges aussteigen. Zwischen den Gleisen stehen mit seinem Spazierstock und den drei Reisekoffern, neben ihm das leicht gekrümmte Marili. Dies ist dann auch geschehen. Eben weil er so lange davor schissete. Fritz und Maria auf dem Weg ins Oberland zu Lydia, dem schneidigen Hanno und den innig geliebten Mädchen. Da stehen sie, eingeklemmt auf dem abfälligen Gleis, zwischen zwei vorbei donnernden Zügen im Winzigbahnhof Konolfingen. Wo es nur ein Perron hat. Wie bestellt und nicht abgeholt. Hanno sagt ihnen, sie seine Tschumpelis. „Glaubst du etwa, wir lassen sich auf dem Bahnhof stehen, dass du immer so pressierst, Vater?! Hat Hanno dich jemals nicht pünktlich abgeholt am Damm?“ Lydia.

Die Zurückgebliebenen lachen die Tschumpelis aus. Aber später, heute, am Ende der Zukunft, sind sie auch gerührt.

 

(28.6.18/26.3.2021, mühsam u fleissig)

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