Kürzlich fragte mich ein ebenfalls schwer ME- Betroffener: glaubst du, dass wir irgendwie gestraft werden für ein Verbrechen, das wir in einem vorherigen Leben begangen haben?
Diese Frage und die langweilige Bettlägerigkeit führt dazu, dass ich über die wenigen Millimeter Spähre nachdenke, die den Menschen vom Tier unterscheiden respektive mich: ich kann mich selbst ein bisschen reflektieren. Ein bisschen, sage ich.
Zu Rudolf Steiner: Was wäre das für ein Gott, der uns in einem zweiten, dritten od vierten Leben mit einer lebenslänglichen Krankheit oder einem lebenslänglichen Gefängnisaufenthalt abstrafte, ohne dass wir bewussten Zugang zu unseren Verbrechen hätten?
Wir hätten dann nicht mal die Möglichkeit, unsere Fehler einzusehen und zu bessern! Kein Gott der Vergebung.
Zweitens: wie würde er strafen: Jene, die die Verbrechen aus Böswilligkeit oder Not begangen haben, gleichermassen?
„There is no crime that cannot be forgiven.“
Doch, wenn der Verbrecher keinen Zugang hat oder kein Einsehen in seine destruktive Tat, dann kann es auch kein Vergeben geben.
Ins Unglück gestürzte oder arme Menschen wenden sich manchmal am Gott, andere haben diesen Schritt nicht nötig. Ich denke, dadurch dass ich an Nichts glaube und hedonistisch den Rausch suchte, war ich vielleicht bereits mit dem Leben gestraft. Risikoreiches Leben als Sündenpfuhl. Aber wer will, der findet immer Fehler: meiner war mangelnde Empathie für andere Menschen und zu grosser Selbstbezug.
Ist das nun ein moralischer Fehler oder eine menschliche Schwäche, die ich „erworben“ habe durch andere Schwache, die nach „bestem Gewissen“ handelten? Und wo ist der Übergang von Natur und also jenem unbewussten Bereich in uns, den wir nicht in unsere Selbstreflektion und Kontrolle integrieren können (Natur) und zur menschlichen Verantwortung respektive Schuld, also der Tat, die wir begehen, obschon wir wissen, dass sie andere verletzt, Schaden nachsichzieht oder tötet?
Ich finde die Inkarnationslehre von Rudolf Steiner „destruktiv“, aber wenn ich sage, dass sogar der Mörder aus Lust am töten keine Schuld trägt, weil es keine Schuld gibt, sondern nur erworbene Schwäche; dann gibt es ja wohl keinen Anreiz mehr für einen Menschen, sich anständig zu benehmen auf der Welt! Aber vor allem nicht jenen nächsten Personen gegenüber, die ihm nichts nutzen! (das noch mehr).
Ich könnte mir vorstellen, der koreanische Präsident hält sich für einen guten Menschen. Russische Oligarchen leben in Palästen und ihre Butler, Finanzverwalter, Designer, Bäcker leben von ihnen. Die Kinder des Bäckers können Schulen besuchen, für sie ist der Oligarch Arbeitgeber und guter Mensch. Für andere ein Verbrecher, weil er gleichzeitig morden lässt.
Zermübender das Schicksal jener armer Schlucker, die ihre Fehler in sich selber suchen müssen, auch wenn sie nicht wissen, wieso sie zum Tod (zb. durch Ertrinken im Mittelmeer) verurteilt sind. War es zu vermessen, die Reise nach Europa anzutreten, weil sie von besseren Lebensbedingungen träumten? Und wenn der eine oder andere dann hier Mist baut und zb. vergewaltigt? Ist er dann schuldig oder war es bloss dieser kleine Teil Restnatur, die plötzlich Überhand nahm und ihn von einem guten zu einem schlechten Menschen werden liess?
Und eben die, die dann urteilen und Gott spielen und richten! Ist ihr Benehmen, zb. im privaten Leben tadellos!? Oh kaum, kaum, kaum! Wieviele unsichtbare Verbrechen können wir nicht sehen! („Mais le bon dieu les voient tout!“ Schön wär’s …) Nach Aussen hin müssen Menschen Gott ersetzen durch Gesetze. Kann ein Richter nachts gut schlafen? Wahrscheinlich schon, denn es gibt ja keinen richtigen Gott und Richter. Der Richter weiss; früher waren die Menschen auch nicht besser! Gerade jene nicht, die anderen mit der Hölle im Jenseits drohten ….
Einen bösen Gott finde ich das, der Menschen ein weiteres mal auf die Erde in ein „Leidleben“ schickt, ohne, dass er ihnen den Sinn dieses Unternehmens vor Augen führt. Und eine grausame Alternative die Natur, die zuschlägt, nachdem sie vielleicht einmal kurz streichelte.
Ich glaube nur an die Liebe und Barmherzigkeit der Mutter zu ihrem Kind. Das ist die einzige unkorrumpierbare menschliche Güte. Aber somit wahrscheinlich wieder Instinkt/Natur.
(24.9.2020)