Memory_Carmela

Sie hiess Carmela Milazzo. Ihr Vater arbeitete in der Dorffabrik am Fluss.
Ein Jahr lang sass sie direkt hinter mir, und wenn die Lehrerin ihren Namen rief, schnellte ich herum
und starrte Carmela Milazzo an. Sie sass da, wie im Traum, sie schien zu schlafen. Ihre grossen, schwarzen Hundeaugen
schauten durch mich, durch die Lehrerin hindurch. Nie brachte sie pünktlich den Mund auf. Es war, als konnte sie gar nicht
reden, als würden alle ihre angefangenen Sätze ins Innere ihres schlafenden grossen Körpers zurücklaufen.
Hatte sie nichts zu sagen? Oder fand sie es bloss zu dumm?
Ich konnte nicht begreifen, wie ein Mädchen, das Carmela hiess, tagtäglich nach Rauch und Urin roch.
Ich hätte mein Mädchen auch Carmela getauft. Aber meine Carmela wäre so weich und anmutig gewesen wie Karamelen.
„Du starrst mal wieder wie eine Kuh durch mich hindurch!“, sagte ich. Aber Carmela antwortete nichts. „Bist du eine Kuh? Eine heilige Kuh?“ Carmela murmelte etwas, sie schien nicht zugehört zu haben. Ich stupste sie an. Keine Reaktion. Langsam wurde ich wütend. Endlich klingelte es zur Pause. Carmela erhob sich torkelnd, ich trat hinter sie und stellte ihr das Bein. Carmela lag flach auf dem Boden, schaute sich entschuldigend um und stand wieder auf.
Die Lehrerin verordnete mir Strafaufgaben: „Schreib hundertmal in dein Heft: Ich werde Carmela Milazzo nie wieder ein Bein stellen.“
Nachdem ich den Satz zwanzigmal geschrieben hatte, rief ich: „Frau Messerli, ich liebe Karamelen!“ Frau Messerli lachte, und meinte: „Ja, dann bring Carmela doch ein Tütchen Karamelen als Entschuldigung mit!“ Ich überlegte. Schliesslich tat ich es. Ich stellte die Folie mit den Karamelen vor Carmela aufs Pult. Sie tat so, als sähe sie sie nicht. „He, schau, du …. da …… magst du die?“ Carmela sagte nichts. Ihre schwarzen Augen wurden etwas aufmerksamer. „Ja, für dich!“ Während jeder Pause wand ich den Kopf zu Carmela, um zu sehen, ob sie eine Karamele genascht hatte. Nix. Schliesslich wurde es mir zu bunt, ich öffnete das Band und steckte mir eine Karamele in den Mund. Eine zweite, eine dritte. „Eine Karamele fürs Kamele. Du sagst, wann stopp!“, rief ich lutschend zu Carmela Milazzo, die jetzt ein klein wenig ächelte.

Ich weiss nicht, was wurde aus Carmela Milazzo. (Sicher mehr als aus mir).

(30.7.2022)

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