3004_zum Diary und der selektiven Wahrnehmung

Die Problematik meiner Diaries liegt darin, dass die selektive Wahrnehmung von mir seit Jahrzehnten darauf konzentriert ist, die Schmerzen, Probleme, Mängel, Unzulänglichkeiten etc…. zu protokollieren. Es kann natürlich sein, dass ich ursprünglich dachte, dass ich diese Probleme, Situationen und von mir mangelhaft empfundenen Umgebungen ändern kann, indem ich sie überhaupt wahrnehme und mich darauf sensibilisiere.

Ich habe nun schon länger festgestellt, dass ich offenbar nicht länger in diesem Spektrum verweilen kann. Es ist zwar so, ja, dass die Umstände, in denen ich lebe, mehr Anlass geben zu Äusserungen der Frustration, zur Empörung, Traurigkeit und Schmerz. Sie bilden also schon eine Realität ab, aber ist das wirklich die einzige?

Negativität ist negativ konnotiert, darum gefällt mir das Wort nicht. Ich muss aber auch sagen, dass ich im Gegenteil nicht mehr sicher bin, ob das Auschreien, dessen, was ich erlebe, in Worten, für mich noch konstruktiv ist. Es kann einfach ein Abbild sein, ein Dokument, selbstverständlich, das mehr oder weniger mit der Realität übereinstimmt, und somit eine Realität festhält, die andere vielleicht nicht wahrnehmen und nicht berücksichtigen können.

Trotzdem war für mich gerade der letzte Diarytext, (eigentlich ein subjektiver Raven-Text, kein Diary) nachträglich schwer verdaulich. Es ist, als würde ich mich selber schlagen, wenn ich immer auf dieselbe Stelle einhacke, die Stelle, die meine Wahrnehmung selektiert: das Fehlen. Ich habe zum Beispiel lange darüber nachgedacht, ob ich das erwähnen soll, was ich auf Datingplattformen erlebte. Einerseits dachte ich, dass es durchaus nicht nur eine subjektive Aussage ist, sondern auch eine generelle Information, der man entnehmen kann, wie enttäuschend solche Plattformen sind, wie bedenklich wenig Freundlichkeit und Anstand es dort gibt, und nicht zuletzt …ein kleiner Stoss in die Richtung eines Geschlechts, über das bei allem Genderzeugs, Feminismus, Weiblichkeit etc., sonderbar wenig geredet wird, auch öffentlich …. ein Geschlecht, von dem man sagen müsste, dass es in der Krise sein muss, auf jeden Fall, wenn man nur den Blick auf diese Datingplattformen hätte …

Und ja, trotzdem, bleibt diese Enttäuschung, bleiben diese Enttäuschungen und letztenendlich negativ konnotierten Einträge ja doch nur an mir haften, fallen auf mich zurück, und es tut mir nicht mehr gut, ständig einen Mangel empfinden und ausdrücken zu müssen, ohne die Situation für mich ändern zu können. Ganz abgesehen davon stosse ich damit meine Leser ab, aber das ist das geringste Problem, da ich diesen Ort hier, längst für eine private Ausbuchtung in ein halbprivates digitales Tunnell halte, an dessen anderen Ende vielleicht jemand ist …. vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall, falls: sind das nur Menschen den Umrissen nach.

Nein, es geht darum, dass ich traumatisiert, v.a. von den Dingen, die in den letzten acht Jahren passierten, die mir zustiessen und auch tatsächlich zugestossen wurden von Menschen, die es nicht besser wussten oder konnten, und dass diese Traumas ihren Niederschlag in einem Ton finden, der mich aufreibt. Natürlich kann ich keine verspielten und fröhlichen Diaries mehr schreiben, die letzten stammten aus dem Jahre 2019, aber eigentlich hatte ich die Blüte meiner Verspieltheit im Jahr 2003.

Ich habe also vor, ein Experiment zu starten, und für eine Weile, wenn es geht, keine „negativen“ Einträge zu erstellen, mit Ausnahme kulturpessimistischer Aussagen oder Philosophische, denn solches entspringt ja nicht meiner Subjektivität. Aber was mein eigenes Leben betrifft, werde ich versuchen, eine Weile noch harmlose und sanfte Wahrnehmungen umzusetzen respektive bewusst, Einträge zu verfassen, die nicht wie ein Bumerang auf mich zurückschlagen können. Ich weiss nicht, ob einer solchen Wahrnahme dann noch etwas abzugewinnen ist, oder ob dass dann einfach eine Art monologischer Small-Talk übers schöne Wetter wird …. Belanglosigkeit, das muss ich sagen, interessiert mich nicht, diese ist für mich negativer als das Negative. Aber wie gesagt, das Negative ist für mich nicht das Negative, sondern der ergänzende Pol einer oftmals destruktiven und unschöpferischen Positivität.

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Ted Hughes hat ja bekanntlich Sylvia Plaths letzten Diary-Band verbrannt. Es war dieser Band, den sie schrieb, als er sich für eine andere Frau von Sylvia trennte, und sie mit ihren zwei Kindern im Haus an der Fitzroy Road im versinkenden Schnee sitzen liess.

Die letzten noch existierenden Einträge vor diesem vernichteten Band aber, sind seltsam leer, harmlos und sanft, fast, als hätte sie Sylvia in der Ruhe vor dem Sturm geschrieben. Sie beschreibt die Blumentöpfe der Nachbarin oder bei wem sie Tee hatte. Sie, deren Tagebuch von der Glut ihres Lebenshungers und ihres Ehrgeizes über hunderte von Seiten glühte, war plötzlich seltsam abwesend und nicht mehr da in ihren Wahrnehmungen, die sich ja doch fast zehn Jahre lang (1953-62), während ihres kurzen Lebens um sich selbst und ihre Stellung in der Gesellschaft drehten. Ich habe diese Einträge aus dem Jahre 60-61 mehrmals gelesen und darin Sylvia Plath gesucht ….. ehe ich wieder zurück blätterte, um ihre famosen Cambridge Notizen (1955-56) zu lesen.

…. aber ich glaube, ich habe verstanden, dass Sylvia sich in dieser Phase ihres Lebens, als der Ehebruch von Ted vermutlich schon angestiftet war, vor sich selbst schützen musste, und die Abwesenheit ihrer grandiosen subjektiven, aggressiv gehässigen und spritzigen Stimmen in diesen vorletzten Tagebücher n, dieses fast Schläfrige, Unpersönliche, sagt mir, dass es Einträge eines Traumas sind, bei denen Sylvia nicht mit ihrer versengenden Leidenschaft und Schöpfungskraft dabei sein konnte.

Ich bin natürlich nicht Sylvia Plath, eine professionelle Schriftstellerin, die beste ihrer Zeit, hochgebildet und hochbegabt, aber mit psychischen Dämonen, sondern nur ein Poete Maudit. So gesehen muss ich nichts zerstören, was zuviel an Abgründen preis geben würde. Aber ich muss, um mich zu schützen, eine Weile Wahrnehmungen formulieren, in denen nicht die Auswegslosgkeit, der ontologische Schmerz, der Zorn steckt. Ich muss ausruhen.

Es ist sonderbar, aber ich schaue ja zurzeit fast nur noch alte Heimatfilme. Je simpler gestrickt, umso lieber. Ich schaue sie, weil ich offenbar diese ganz deutlichen Gegenbilder brauche, man könnte meinen, gefakte und beschönigte sozusagen. Wer weiss, vielleicht waren diese österreichen und deutschen Heimatfilme ja auch eine Art Ausdruck eines vorhergehenden Traumas, dem nicht wirklich beizukommen war, das immer wieder verdrängt werden musste. „Das Schweigen im Walde“ (1955) ist so ein Film, der eigentlich ganz gut als Märchen resp modernes Disney verfilmt werden könnte. Aber eben gerade, weil es ein realer Spielfilm ist, schaue ich ihn mir an: ein beschönigtes Leben, aus zarten Szenen, derbem Humor, Naivität, sozusagen inhaltslos, umgeben von intakter Natur und süsser Musik.

Sylvia, ich beknie mich vor dir.

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