3004_Diary_Komm lieber Mai, ich war in Bern_ und: Testimony ohne Zeugen

Heute habe ich mich entschieden, wenn überhaupt, weniger grosskotzig zu schreiben.
Ich weiss nicht, woher das Grosskotzigeschreiben bei mir kommt. Ich denke, es liegt daran, dass ich mir die Sprache immer wieder neu auf die Schnelle aneigne. Mir ist es nie um die Sprache gegangen, leider, beim Schreiben, nur darum, dass das Resultat eine gewisse Substanz an die Oberfläche spült, und ich möglichst schnell das lastende Gewicht einer (körperlichen) Aussage platzieren kann. Dennoch versuche ich in meinem neuen Prosaversuch: „Testimony ohne Zeugen“, heisst der Titel, das Maulaffige wenn möglich zu unterlassen. Und das geht nur, wenn ich beamtenhaft sorgfältig, einigermassen sorgfältig kleinliche Aussagen, zb. zum Wetter, in einem sorgfältigen Satz verpacke.  Mein erster Roman: Glaubenssatz, hat mich alle Substanz gekostet, ich war jahrelang zuerst high davon (vom Schreiben), dann wiederum ausgebrannt …. Es ist nicht einfach, Prosa zu schreiben, wenn einem die ganze Leichtigkeit abhanden gekommen ist. Man muss schauen, dass man nicht in die Sentimentalität, das Dauer-Lamento abdriftet. Das Lamento ist seit knapp zwei Monaten mein Herzton, als endloses Rattern zieht es durch mich hindurch …. und diese Störung zwingt mich dazu, mein Gefühl nicht schneller und tiefer in mein Schreiben zu werfen, als dass ich es verkraften kann. Ich meine damit auch: dass ich im „Testimony ohne Zeugen“ keinen neuen dramatischen Höhepunkt anstreben will, dass ich nicht zerfleischt werden will bei meiner Arbeit, durch die ich offenbar fehlende Leidenschaft (oder Mit-Leidenschaft von mir mit Anderem?) im Leben kompensierte resp, sublimierte. Ich versuche wirklich nur noch zur pragmatischen Ablenkung zu Schreiben, ich habe meiner Arbeit keinen Götzendienst mehr zu leisten, ich kann mich ihr nicht mehr verschenken, da ich ihr alles von mir gegeben habe, in meinem Glaubenssatz, falls dieser Satz irgendwie Sinn macht. Selbstverständlich sollte ich in dem Fall auch nicht mehr schreiben, wenn ich sage, dass ich meinem Schreiben so gut wie nichts mehr geben kann, nur noch das Minimum an Herzblut. Aber nach wochenlangem Überlegen wie ich die gähnende Leere in meinem Bettfloss über die Runden bringen könnte, bis zu meinem natürlichen Ableben resp eine Komplikation aufgrund meiner langjährigen chronischen Erkrankung, habe ich einsehen müssen, dass ich an der Weggabelung keine freie Wahl habe. Von einem neuen, anderen Weg, zb. durch ein Jobinserat derart: „Suche Arbeit vom Bett aus! Vier Stunden wöchentlich! Nur leichte Schreibarbeiten, keine Zahlen etc!“, habe ich wieder abgesehen, vielleicht kann ich es mal erklären, wieso, es ist zum jetztigen Zeitpunkt ein Ding der Unmöglichkeit. Ich will nicht sagen, dass ich ein fünfzigfaches Burnout erlebe, nicht zuletzt durch die neusten Trauma, u.a. durch die Elektroschock-Anordnung des Neurozentrum im Inselspital Bern, den feigen Exit-Rückzug meines Penner-Arztes D., und mein privates, kleines Liebesleiden, das mir zuletzt ein Kapriölchen sondergleichen ins Leben reingehauen hat, teilweise noch selbstverschuldet …. vielleicht kann ich es mal erklären, wieso, es ist um jetztigen Zeitpunkt ein Ding der Unmöglichkeit. Ich will nicht sagen, dass ich bis zum Hals in einer psychischen Lähmung versinke, ich suche nur nach weiteren Formen des Wiederüberlebens, wobei mir diesmal fast nur noch die Psyche weh tut, die körperliche Sache, da, die Verursacherin der beschissenen Umstände, wird zurückgedrängt hinter dem Schmerz, in den sich meine Lebendigkeit und Lebenslust für Stunden verkehrt: glühend, manchmal, wenn die Sonne scheint, wenn es möglich ist, einen kleinen Ausflug zu machen, wie Mitte April mit Ildy, hinab ins Zehndermätteli. Es war ein Erlebnis, das mich wie ein sonderbares Märchen umschmeichelt, jetzt im langwierigen Nachhinein: die tiefhängenden Bäume mit den frühlingshaften Knospen, das helle Licht, das sich in unseren Apfelsaft-Gläsern spiegelte, im schwarzen Haar der feenhaften Ildy mit ihrem bleichen, gelblichen Gesicht, ihrer sanften, monotonen Stimme. Und überall das spreissende Grün der kleinen Pflänzchen in ihren Töpfen nebenan in der Gärtnerei. Wir gingen den Rundgang durch das Gras. Alle dreissig Meter leuchtete uns ein farbiges Osterei entgegen, quasi als Wegmarke. Und schliesslich am Wasser haben wir unsere Schuhe ausgezogen und die Zehen in den Sand gesteckt. Vor knapp zehn Tagen konnte ich nach mehreren Jahren Abstinenz meine erste Reise in die Altstadt machen. Ich ging einfach dem Kopfsteinpflaster entlang, immer tiefer und tiefer die Stadt hinab, hab mir jede Mauer, jeden Stein, jedes Fenster gemerkt. Aber nachher, weil ich meine 2h „Funktionstüchtigkeit an guten Tagen in guten Phasen“ eingebüsst hatte und schon in der dritten Ausflugsstunde war, schaffte ich es kaum mehr zurück. TaxiKahn wollte ich nicht rufen, nicht mit TaxiKahn-meinem Behinderten-Chauffeur, einen so bittersüssen, märchenhaften, sonderbaren Ausflug als Besucher von Drüben nach Hier, beschliessen, ich muss zugeben, es war sehr, sehr schwer nach hause zu finden, in den hintersten Winkel der Engehalb-Insel. Aber zweiundsiebzig Stunden später, da habe ich plötzlich wieder geweint, geweint, geweint, wie über etwas Verlorenes, das ich nur streifen, nur berühren, nie wieder richtig bewohnen kann. Die Stadt zu erobern, nach so viel Jahren Abstinenz, führte mir vor Augen, dass es keinen Zugang gibt, keinen wirklichen Zugang für mich …..dass ich ein Stromer bin, ein Bummler …..der nur zufällig hier einmal vorbeischaut, aber nicht mehr mitmacht …..ich will nicht sagen, dass ich als junge Gör‘ dazugehörte, meine Nische gehabt hätte. Aber das waren doch nur die Anpassungsblödheiten ans System und was sie von mir verlangten, mit denen ich damals in erster Linie kämpfte. Abends respektive nachts büxte ich noch aus, tanzte im Dachstock bis ins Morgengrauen und liess mich von Chris Rosales betrunken Dreihundert Meter, von der Reitschule bis zum Bahnhof hoch über den Gehsteig des Bollwerks ziehen …… und zwar in einem horrenden Tempo! Man kann sagen, ich schwamm, ich glitt mit dem ganzen Körper über den Asphalt, während Chris Rosales meinen Arm zog und damit gen Horizont rannte, als wäre er von der Tarantel gestochen. Das war vielleicht ein grosskotziger Moment …. den ich niemals vergesse…. obschon dann auch diese Szene nicht das gelbe vom Ei ist, wie mich im Nachhinein dünkt. Ich habe bis auf ein Jahr – mein Jahr in Brügg – jetzt 20 Jahre exakt in der Beamtenstadt Bern gelebt, eine enttäuschende Vorstellung, ganz sicher, denn Bern ist und bleibt eine Beamtenstadt. Aber das Gestein in der Junkerngasse, der Nydeggstalden, die Münsterplattform, all das hat mich irgendwie gerührt. Keine Ahnung wieso. Vielleicht, weil der Stein älter ist als mein Aufenthalt in der Stadt Bern, viel älter, genaugenommen. Und weil mich alles Alte seit einigen Jahren beruhigt und berührt. Weil es nicht mehr da ist, aber doch noch da ist, weil es darunter liegt, das Feste, wie der Stein, unter dem Darübergeworfenen, weil es die Stadt ist, die es immer noch gibt. Obschon sie auf keinen abtrünnigen Menschen wartet, ist sie immer noch da.

(8.5.22)

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