3004_Diary_and: Shadows of the absent body, Judith Butler

„Gerade weil wir zerstören können, sind wir dazu verpflichtet, es nicht zu tun.“

Ich kann den Kopf nicht heben, die Halsmuskeln vermögen es nicht. Weil mir langweilig ist, habe ein bisschen Butler gelauscht (auf Englisch jedoch sehr schwierig!) Zwar hielt Butler vor ein paar Jahren einen Vortrag im Harvard Museum zu Installationen einer kolumbianischen Künstlerin namens Doris Salcedo, deren Werk sich unter anderem um das Vergessen: Oblivion, dreht.

Die Ausstellung zeigt unter anderem nicht opake, lose Kinderkleider, die irgendwie wie Schatten im Raum hängen, Stühle, mit etlichen Narben durchbrochen, weisse Gebeine mit hauchdünnen Lehnen, wie zufällig hingestellt im weissen Museumsraum, ein musealer Raum, der etwas Zurückzuerobern versucht, was meiner Meinung nach nicht wirklich funktioniert, weil der Raum ja etwas darstellt, und sich damit auf etwas Neues bezieht.

Der Besucher kann diesen Raum zudem nach Belieben Betreten oder Verlassen, er kann mit der Phantasie dem Verlorenen folgen, und verliert doch die Spur schon nach kurzer Zeit. Es bleibt diese Beklemmnis, dass die Künstlerin die abwesenden Körper nicht zurückholen kann, sie ihr nur der Phantasie dienen; durch die sie das Memorandum schafft mit dem Vergessen.

Kolumbien ist offenbar ein Land mit einer blutigen Geschichte, wie ich kurz nachschlug. In Kolumbien sind zwischen 1985 und 2015 5,7 Millionen Menschen „verschwunden“ und vertrieben worden: Minderheiten, Indigene, Kleinbauern. 5,7 Millionen Menschen, viele davon nicht registriert ….. wo sind sie hin? Offenbar weiss das niemand. Und niemand hat sich daran gemacht, diese Menschen wieder zu suchen…. warum nicht?

5,7 Mio Vertriebene ist eine unfassbare Zahl, und doch ist es nur eine Zahl. Und also haben irgendwelche Verantwortlichen diese Verschwundenen gezählt. Aber zählen damit auch die Toten? Fragt Butler: „Do they count the deaths or do count the deaths?“

Was wiegen die Toten?

Oblivion: Vergessen werden können also im Prinzip ganze Völkerteile und die Frage dreht sich darum, wie man denn um einen solchen Verlust trauert. To grieve …. nennt sich das Wort. Und Butler sagt: „Sometimes there was never a life that is to be grieving ….“

Was für ein Schmerz! Wie niederschmetternd.

Aber doch dann: „To establish a life as grievable, as worthy of grief—and worthy of preservation—is an injunction that pertains to both the living and the dead. But under conditions when the body is no longer recognizable, how do the objects that remain come together to speak to the loss?“

Das weiss ich auch nicht, ehrlich gesagt.

Ich habe ein paar Dinge über Kolumbien erfahren (Arte):

Kolumbien ist eines der Länder, mit der grössten Ungleichheits-Schere zwischen Arm und Reich. Gleichzeitig hat es eine grosse Biodiversität, besitzt die grösste Artenvielfalt von Vögel und Bodenschätze mit Smaragden, Öl usw.

Im Norden, im Urwald des Chocos lebt ein Teil der indigenen Bevölkerung erstaunlich primitiv, abgetrennt von wichtiger Infrastruktur und unglaublich Kinderreich. Im Schnitt hat eine Frau (ein 16jähriges Mädchen) acht Geburten. Umso komischer ist es, dass die Hebammen nicht anerkannt arbeiten dürfen. Auf jeden Fall eben auf dem Land, sieht die Situation so aus, dass alternative Kräutermischlerinnen kilometerweite, gefährliche Dschungelpassagen zu Fuss durchstreichen, um bei einer Geburt in einem Dorf dabei zu sein. Eines der Gebräue, das den Schmerz der Wehen lindern soll, ist das Eisenkraut. Die Dschungel-Hebamme braut es nach dem Rezept ihrer Grossmutter und nimmt es mit zu den Geburten. Viele Frauen treffen sich und lernen von der Dschungel-Hebamme das A und O einer Nothilfe, zb., wie man sich vor einer Entbindung, die Hände wischt.

8 Geburten im Schnitt, aber die Regierung anerkennt den Beruf der Hebamme nicht.

In der Pandemie wurde der arme Teil der kolumbianischen Bevölkerung vom Hunger geplagt. Leute, die in Not waren, hingen während der Quarantäne ein rotes Tuch vors Haus, was soviel bedeutete, wie: wir haben nichts mehr zu Essen, helft uns!

Dies ist eine gute Idee, ich meine, überhaupt: mit einem Gegenstand auf eine Notlage oder einen bestimmten Zustand in einem Haus aufmerksam machen, sich sichtbar machen durch ein rotes Tuch. In den Vororten von Bogota muss es gewimmelt haben von roten Flaggen, und vielleicht hängen die Menschen das rote Tuch ja weiterhin ans Fenster, wer weiss?

Auch die 74 Prozent der kolumbianischen Frauen, die während der Pandemie häusliche Gewalt erlebten, sollten ihr Haus mit einem sichtbaren Symbol versehen …. nur ist es da wohl nicht mit dem Abgeben von Fresspaketen getan.

Oder Einsamkeit: Warum kein Trauerflor an der Hausmauer für Einsamkeit?

Natürlich spricht mich the shadows of the absent bodies auch an, im Hinblick auf meine Situation. Gibt es eine Möglichkeit, um einen vertriebenen Körper /oder/und Menschen zu trauern oder nicht? Er ist ja immer noch da, wenn auch nur als Schatten ….. Und wie steht es um einen „Schatten“, der kein „worthy“ life hatte, der nicht registriert war ….. und jetzt doch nicht mehr da ist als Ganzer, nur noch als Schatten …. wie sollen Menschen, die man nicht die Hinterbliebenen nennen kann, weil der nicht wirklich eingetretene Tod des Verschwundenen eine Verabschiedung und also ein „To grief“ verunmöglicht, diesen Verlust sowas wie konstituieren/festmachen?

(7.4.22)

 

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