Jeanne Stürmchen: Marion, bist du im Sommerloch?
MJS: Was ist das?
Jeanne Stürmchen: Sommerloch, lese ist auf Wiki, ist eine Zeit im Jahr, in der es in der Presse zu einem Rückgang an Nachrichten kommt, v.a. in Sport und Kultur, weil die Leute in den Ferien sind. Manchmal wird diese ereignisarme Zeit mit einem Sommerlochtier gefüllt, einem Ereignis mit Sensationswert.
MJS: Soso. Meinst du.
Ich spüre schon ein Sommerloch, doch. Konkret habe ich jedes Jahr aufs Neue den Eindruck, dass mein Jahr Ende Juni, spätestens Mitte Juli gelaufen ist. Im August bin ich schon ganz im Herbst. Der August ist für mich immer der verworrenste und melancholischte Monat gewesen im Jahr, der Mai der Monat der Startpflöcke und Versprechungen.
Jeanne Stürmchen: haben sich diese Versprechungen dieses Jahr eingelöst?
MJS: Nein. Obschon ich sagen muss, dass viele dieser Versprechungen symbolisch sind, während das Gefühl, das Jahr sei im August zu Ende für mich mit der sich entfernenden Sonne zu tun hat. Das ist ein Abschied….
Zu deiner Frage: erreicht habe ich nichts. Konkret oder auf dem Tisch liegt nichst Greifbares, das meinen Status verändert. Immerhin, und das ist vielleicht das einzige, das ich erwähnen kann, habe ich jemanden gefunden, der meine Romanarbeit redigiert und mir helfen will, sie zu publizieren.
Jeanne Stürmchen: ein echter Verlag?!
MJS: Nein. Mit echten Verlagen, ich nehme an, du meinst damit: etablierte Verlage der Marktwirtschaft, Verlage, die für Literatur in der Kultur stehen, habe ich nur sehr wenig Kontakt aufgenommen. Zwei Verlagen sprangen ab, als ich mein Thema: u.a. eine chronische Erkrankung, von der ca 24000 Schweizer betroffen sind, ohne Hilfe, erwähnte. Ein weiterer sagte mir per Telefon, er habe Mühe mit Geschichten, die „drücken.“ Letzterer meinte: er habe meinen Text gleich wieder zugeschlagen, so niederschmetternd sei das. Er wünsche sich einen Christoph Simon….
Jeanne Stürmchen: Haha…
MJS: Ja, man kann das so verstehen: die Zeit für Literatur, die die pessimistische Note akzentuiert, ist ganz sicher vorbei. Darin komme ich als Kind der Neunzigerjahre viel zu spät. Gleichzeitig ist da aber, so, wie ich das beurteilen kann, eine Bereitschaft für Problemliteratur, die nicht einfach ein einzelnes Schicksal betrifft, sondern Gruppen oder Themen, die sich im Journalismus abzeichnen, meistens für eine gewisse Zeit Mode sind. Daneben sehe ich, dass die Lust, Exotisches herauszubringen sehr stark ist.
Auch das ist für mich logisch: Kultur, die sich so nennt, mag sich schmücken mit dem Fremden. Sofern das Schicksal fremd und fern ist, ist ein offener und linksgerichteter Verlag grundsätzlich interessiert … sobald ein Problem seine Wurzel in dieser Kultur hat…. sobald ein armer, arbeitsloser Arbeiter ein Buch schreibt über sein Leben….. ich glaube, da schwinden die Chancen.
Jeanne Stürmchen: Gibt es überhaupt Arbeiter, die ein Buch schreiben?
MJS: Ich weiss es nicht. Ich glaube, in der Regel nicht. Oder wenn, dann ist der Autor vielleicht einmal arm gewesen, so wie Eduard Louis in Frankreich. Er hat mit seinem Roman über seine Kindheit in der französischen Provinz, als homosexueller Sohn eines zerrütteten Arbeiters in „Das Ende von Eddy“ grossen Erfolg gehabt. Es ist spannend zu verfolgen, wie sich sein Leben, das sich im Proletariat abspielte, ich glaube, in Frankreich spricht man noch von Proletariat, verändert unter seinem kometenhaften Aufstieg in eine erste kulturelle Klasse von Paris…. ich meine, es ist interessant, zu verfolgen, wie die komplett gegensätzlichen Umstände seines Lebens sein Denken und Schreiben beeinflussen werden ….
Jeanne Stürmchen: Gibt es bei uns kein Proletariat, sagst du?
MJS: Nein, bei uns sind alle gleich. Offiziell. Ironie off.
Jeanne Stürmchen: Zurück zu deinem Projekt. Du sagst, die Toleranz gegenüber einem „Drücken“ aus den eigenen Reihen ist sehr niedrig?
MJS: Ja und Nein. Ein Drücken, das seine Roots in dieser Kultur hat, aber sich dieser doch total entgegenstellt. Und ja: ich meine, dass da vielleicht auch etwas verwechselt wurde mit dem Wort drücken: Man möchte lieber nichts publizieren, dass das Portemonnaie weiter drückt.
Jeanne Stürmchen: MJS, ist dein Buch hoffnungslos? Ist es pessimistisch?
MJS: Ich weiss es nicht. Offenbar habe ich nie wirklich in diesen Kategorien gedacht. Das Wort negativ existiert für mich nicht, das Wort positiv interessiert mich nicht. In meiner Vorstellung geht es nur um die Kreativität, um die Umsetzung des Gegenstands. In meinem Fall war das kein Wellnessseminar oder ein Bekenntnis zur Anthroposophie usw., sondern der Versuch, zu schreiben. Zu schreiben wie ich fühle, weil ich nicht anders kann, aber mit einem gewissen, limitierten Gestaltungswillen.
Es ist schade, dass ich von den meisten Menschen nicht verstanden werde und einfach ein negativer Mensch bin, der sich partout nicht zum Optimismus konvertieren lässt. Es ist schade, dass ein Nichtkünstler nicht verstehen kann, dass die Lebendigkeit und Vitalität des „negativen Charakters“ im künstlerischen Werk zum Ausdruck kommen kann. Im Resultat. Oder im Weg zu diesem Resultat. Ich weiss, dass es schwierig ist, sich in unkonventionelle Menschen hineinzuversetzen. Aber versuche ich nicht auch, mich immer wieder mit meinen IT-Berater zu verständigen? Könnte ich einen Mathematiker verstehen? Sicher nicht, was er macht! Aber vielleicht könnte die Verständigung darüber, warum er dies macht, mich dazu bringen, ihm Anerkennung entgegenzubringen …
Jeanne Stürmchen: Würdest du einem Banker Anerkennung entgegenbringen?
MJS: Naja. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. In der Regel geht es mir nicht um den Beruf. Und doch kann es sein, dass ich Zugang finde zu einem Menschen, und besser verstehen kann, wie er tickt, wenn er mich auf eine subjektive Art in seine Tätigkeit einweiht. Das ändert aber nichts daran, dass es viele Berufe gibt, von denen ich denke: Nur schlechte oder mittelmässig gute Menschen können diese tun.
Jeanne Stürmchen: Du bist also voller Vorurteile. Da ist es doch nicht erstaunlich, wenn man dir und deinem Schaffen nur Vorurteile entgegenbringt?! Du machst damit ja nicht mal Geld!
MJS: Ja, darum sagte ich, dass sich das, was ich mache, persönlich ist. Und dieser Sache nur auf einer persönlichen Ebene entgegenzukommen ist. Aber ist sie deswegen scheisse?
Jeanne Stürmchen: Wie soll ich das wissen? Ich, als deine Figur in deinem Buch! MJS., nochmals zurück zu den Berufen, weil ich das gerade sehr interessant finde. Du sagst, dass du Menschen mit Vorurteilen belegen kannst, je nachdem, welchen Beruf sie ausüben. Gleichzeitig sagst du, dass es dir um den Menschen geht, und er es in der Hand hat, dich dazu bringen, seine Tätigkeit zu anerkennen?
Würdest du auch einen Verbrecher anerkennen?
MJS: Ich weiss nicht. Ich könnte ihn wohl lieben.
Jeanne Stürmchen: das ist nicht dasselbe wie anerkennen…
MJS: Überhaupt nicht ….
Jeanne Stürmchen: Könntest du einen Kriminellen anerkennen?
MJS: Ich kann nur einen Menschen verstehen. Die Liebe ist eine andere Sache ….
Wollen wir zurück zum Thema? Du hast mich gefragt, ob mein Buch hoffnungslos ist. Ich gebe dir noch eine Antwort:
Es ist eine Frage der Perspektiven…
Jeanne Stürmchen: Ich, deine Figur, Jeanne Stürmchen, habe dich MJS, Autorin des verspäteten Nihilismus, ertränkt. Das ist schon ein brutales Ende….
MJS: Njein. Ich habe den körperlich kranken Teil einer Figur ertränkt, während ich die den physisch gesunden Teil weiterleben liess.
Das Tragische daran, was ich nicht für dasselbe wie nihilistisch halte, ist, dass ich mit der kranken Physe auch ein erstarkte und verhältnismässig gesunde Psyche ertränken musste.
Jeanne Stürmchen: Willst du damit sagen, dass du lieber mich ertränkt hättest?! Warum hast du es nicht getan?
Wie willst du weiterschreiben, jetzt, wo ich, deine Figur, die Autorin ertränkte?
MJS: Ich habe dich nicht ertränkt, weil ich die Jugend vergöttere….. weil du für mich eine Art Hedonismus bedeutest,
eine Sinnlichkeit und Vitalität, ja, auch eine Destruktivität, die ich nicht zerstören konnte. Ich glaube, in dem ich dich weiterleben
liess habe ich einfach den Eros und das Dionysische über alles gestellt.
Jeanne Stürmchen: Möchtest du denn meinen Körper, aber deine Psyche? Warum möchtest du meine Psychische Kraft nicht mehr?
MJS: Ich möchte sie nicht mehr, weil auch sie nicht mehr überlebensfähig ist in der heutigen Zeit! Ich liess sie überleben als Sinnbild! Aber dieses Ende ist nicht so wichtig, denn es ist nur eine Spielart.
Ich habe auch nicht die Autorin ertränken lassen von der Figur, ich habe eine Figur, die Autorin ist, ertränken lassen von dir, der
andern Figur. Aber ich, ich bin immer noch….
Jeanne Stürmchen:… und denkst darüber nach, was du als nächstes schreibst?
MJS: nur ein bisschen….
Jeanne Stürmchen: könntest du dir vorstellen, ein Buch zu schreiben mit einem versöhnlichen Ende?
MJS: Ich kann mir vorstellen, in einem Text über gewisse Strecken einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.
Vielleicht ist das aber nur ein mühsamer Hang zur Sentimentalität, der mich im Verlauf der späteren Erkrankung
überkommen hat ….
Jeanne Stürmchen: Warum lesen die Leute keine Literatur mehr, die erschüttert, hämmert (Brecht), die weh tut?
MJS: Sie lesen keine solche Literatur mehr, weil sie ununterbrochen an der Schutzschicht arbeiten müssen, die die
entfremdete und entmenschlichte Arbeitswelt ihnen abverlangt. Sie gehen einen vorgerfertigten Pfad und müssen
ihn Optimismus nennen, um nicht das Scheitern des Individualismus darin zu erkennen. Menschen, die von der
Arbeit tot kaputt sind und keine Kraft mehr haben, ihre freie Zeit zu pflegen, sich um sich zu sorgen, können nicht
ausbrechen. Denn, wenn sie ausbrechen, was passiert da? Wer ernährt ihre Familien? Wie kommen sie über die Runden?
Was ist mit ihrem Prestige? usw.
Jeanne Stürmchen: Tust du es noch? Lesen, Literatur, die weh tut, erschüttert?
MJS: ich lese selten. Meine Augen sind wie die, einer Hundertjährigen und die Brille hilft nicht.
Aber ja, ich lese Celan, Trakl, Dickinson…. aber es ist wahr, ich bin unterschiedlich empfänglich.
Ich weiss nicht, wann mich zum letztenmal ein Roman tief berührt hat. Sicher ist es ein Roman aus dem
19. Jahrhundert gewesen.
Jeanne Stürmchen: Wo und wie kommt dein Roman raus?
MJS: bei Bookondemand. Ich bin noch nicht so im Klaren, wie das abläuft.
Jeanne Stürmchen: Wird es Nachfragen geben?
MJS: das glaube ich nicht. Nicht bei jemandem, der niemand kennt und den niemand kennt.
Jeanne Stürmchen: Danke, Marion. Und viel Freude am Herbst.
MJS: Danke. Auch dir gute Unterhaltung am Sommerloch.
Jeanne Stürmchen: Danke. Gerade geniesse ich den Anblick von etwas Sommerplausch durchs Fernrohr. Ein Sommerlochtier ist hier nicht in Sicht.