Es ist definitiv keine Option, öfters mal wieder auf ein Bier zu gehen. Ich hatte es kurz in Erwägung gezogen als eine Möglichkeit, ein winziges Fluchtfenster aus diesem Gefängnis heraus. Ich bin nicht gefesselt und ich werde nicht geschlagen in meinem Gefängnis, (auf jeden Fall nicht von einem Menschen), zudem; meine Gedanken sind frei. Und doch ist ein solches Unterfangen; ein Bier trinken gehen ein „gewalttätiges“ Erlebnis für den Organismus eines moderaten ME-Betroffenen, ja, so seltsam sich das anhört: es ist ein Unterfangen, das im Nachhinein in einer Form von Gewalt zurückschlägt, wie jede Aktivität mehr oder minder. Und diese Gewalt, der neuroimmune Schmerz, der Schwächeschmerz aus den Zellen, der Schmerz der Übelkeit, der Schmerz des Fiebers, der Knochen usw., lässt sich eben nur verhindern, wenn man in der Isolation lebt, sprich: wenn möglich im Bett liegt und sich keinen Reizen aussetzt.
Das Unterfangen, nach vielen Jahren an einem Freitagabend in der Stadt ein Bier zu trinken, bekommt im Leben eines langjährigen Bettlägerigen einen solchen Status, dass die Realität nur daran zerbrechen kann. Oder anders gesagt: ich könnte nur noch unter den idealsten Umständen ein Leben haben, in einem Kokon sozusagen, in dem nur die zartesten, feinfühligsten Menschen Einlass haben, müsste ich leben, in einem Paradies …. aber ein Paradies muss man sich erschaffen! Und um es sich zu erschaffen, muss man sich der „Gewalt“ aussetzen, auch der zerbrechlichste und kränkeste Körper muss das ….
Die Reize eines nächtlichen Ausgangs kehren sich beim Erwachen des nächsten Tages seit jeher in eine unwahrscheinliche Bedrängnis, eine Art Nach-Reiz, den man nur schwer erträgt. Es ist wirklich so, dass das Gehirn bei ME filterlos ist, aber gleichzeitig erlebt man prolongiert, wenn der Crash kommt, die ganzen Erlebnisse respektive Reize nocheinmal, nur diesmal nicht betäubt, sondern halluzinatorisch wach, als kleine Nädelchen, die das ganze Sensorium über mehrere Stunden stechen.
Es tut sehr weh, diese neurosensitive Reizfilterstörung, auch wenn gleichzeitig diese herabgesetzte Schwelle der sinnlichen Wahrnehmung eine Quelle des Glücks und des Rausch sein könnte …. auf einer viel, viel kleineren ätherischen Ebene, versteht sich.
Ich will nicht sagen, dass mein Crash heute allzulange dauerte oder dass er aussergewöhnlich brutal war. Er dauerte etwa 2 Stunden, und war nur ein wenig stärker als ich ihn normal beim Erwachen erlebe, über viele, viele Tage hinweg. Man kann dann halt einfach nicht auf, sich nicht bewegen, nicht regen, man ist halt einfach so schwach, dass man es auch nicht aufs Klo schafft, und dieses Schwäche lässt einem das Erwachen bereits als Gewaltakt fühlen …..
Ich habe damals, als ich mich im Ausgang noch verausgabte, stundenlange, tagelange Kater erlebt, in denen ich mich schweissnass wälzte. Ich hatte natürlich zu viel getrunken, aber das erklärte niemals diese wahnsinnigen Reaktionen nach einem nächtlichen Ausgang. Ich wusste nicht, dass ich bereits ME hatte, und ich wusste nicht, wie ich einer nächtlichen Bekanntschaft sagen konnte, dass ich nicht noch mit ihr Frühstückchen oder sonstige Spässchen abhalten kann, weil ab sechs Uhr morgens begann bei mir der Kater, und zu diesem Zeitpunkt musste ich unsichtbar und verschwunden sein, um meine Zeche zu zahlen für 3 bis 14 Tage.
Ich habe es trotzdem, wie gesagt, bis zum Jahre 2007, immer wiederholt. Ich musste einfach tanzen gehen und trinken, ich musste versuchen, einen Menschen zu finden zum Verschmelzen, zum Leben …. ich wusste nicht, wo sonst suchen, ich arbeitete in einer Tagesstätte.
Aber dann, wie gesagt, habe ich aufgehört, weil ich die Gewalt nicht mehr ertragen konnte auf dem Level einer zusätzlichen Alkintoxikation. Und nun, viele Jahre später gehört diese Gewalt zur Tagesordnung ohne, dass ich irgendwelche „Sünden“ begehe, ohne, dass ich mich verausgabe…..ausgelassen tanze, lache, rumhüpfe ….. mein Gesicht in andere hineinstecke … naja, vielleicht bin ich ja auch aus dem Alter.
Aber dennoch: wenn ein Biertrinken für 2 Stunden, einmal wöchentlich nachts, einen so brutalen Impakt auf den Organismus hat, was kann ich dann noch erwarten? Alles, was ich versuchen werde, um mich in irgendeiner Weise von dieser Trauer des Stillstands und der verlorenen Liebe weg zu bewegen, kann ja nur weh tun, weil ich eine richtige Änderung, eine richtige Bewegung benötige, jetzt, nach so vielen Jahren der Disziplin und des Ausharrens im Immergleichen, um meiner Psyche die Chance zu geben, irgendwie mal wieder fröhlich zu werden ….
Aber wie soll das gehen? Der Körper ist nicht einfach nur ein Körper, er ist das Gefäss, das Instrument, der dem all meine Gefühle und Wahrnehmungen reflektiert …. wäre er gesund, würde er jedes exzessive Gefühl abfedern, ist er krank, leidet er an zellulärer Schwäche im Ausmass der ME, dann kann er die Gefühle nicht abfedern …. und dies hat wirklich nichts mit Borderline PS zu tun, die Hyperreagibilität, die BPS ist nur ein weiteres Hindernis, da ein Mensch mit BPS per se exzessiv Gefühle erlebt …. wenn er sie mal erlebt, weil er ja auch oft leer ist, völlig leer.
Was ich eigentlich sagen will, ist: dass man wirklich so gut wie nichts tun kann, ohne die nachträgliche physische Gewalt des neuroimmunen Crashs wieder und wieder über sich ergehen zu lassen. Und dass das Niveau der Aktivität so klein sein muss, dass es halt die Bedürfnisse der Psyche auf Dauer nicht mehr befriedigen kann …. dass die Psyche sterben muss oder eben wieder und wieder den Terror zu ertragen, physisch, in erster Linie, klar, aber eben auch psychisch …. denn wiederholte physische Gewalt traumatisiert die Psyche, trägt sie ab wie ein Fels …. man kann nicht psychisch unversehrt bleiben, wenn sich diese Schlaufe jahrelang wiederholt …. entweder wird die Sehnsucht und der Hunger, endlich zu leben, so mächtig, dass man dafür irreversiblen körperlichen Schaden und den Tod in Kauf nimmt … oder man muss sich in irgendeiner Weise so betäuben, dass das Bedürfnis nach Leben und Erleben, Teilnehmen, Erfahrungen, Bewegungen, Ortsveränderungen usw., stirbt…… und dies geht wiederum nur bei exzessivem körperlichem Schmerz, wenn die Agonie wochenlang oder monatelang das Überleben auf niedrigstem Niveau diktiert … so ja, vergisst man die Sehnsucht nach dem richtigen Leben wieder ….. und sie kommt erst wieder zurück, wenn ein Mindestmass an Kraft vorhanden ist.
Dieses Mindestmass reicht bei moderater-schwerer ME nicht, um am Leben teilzunehmen. Es reicht nicht für eine kleine Arbeit, nicht für eine Freizeitbeschäftigung ausser Haus, nicht für eine Tagesreise, nicht für eine regelmässige Psychotherapie, nicht, um Beziehungen zu pflegen …. und … ja, eigentlich auch nicht, um einmal wöchentlich ein bis zwei Stunden ein Bierchen zu trinken.
Es lohnt sich also nicht, mit dieser Erkrankung zu leben. Weil Leben, das würde bedeuten niemals nach dem Lohn oder dem Preis fragen zu müssen …..Leben würde bedeuten, sich hineinstürzen, dies und das auszutesten, sich irren zu dürfen, Fehler zu machen, Konzepte zu ändern, über den Haufen zu werfen, spontan sein, viele Leerläufe zu ertragen, viel zu investieren ….. usw. Man hat mit ME einfach keine Wahl. Und weil man keine Wahl hat, gibt es auch kein zweites oder drittes Standbein. Es gibt keinen Plan B. Keine Alternative.
Und deswegen, darum, werde ich vermutlich auch nicht anders Schreiben können. Nicht, solange mein Herz diesen Schrei und dieses Trauma auf der Zunge trägt und alle leiseren Töne, alle Reisen in ein fiktives Anderland so stark erschwert. Ich weiss, dass ich virtuell reisen kann, dass ich meine Phantasie habe, dass ich meine Imagination von der Realität abwenden sollte …. aber ich schaffe es nur sporadisch. Vielleicht, weil das rein Virtuelle, wirklich keine sinnlich erfahrbare Komponente mehr hat. Weil es leer ist.
(15.5.22)