Portrait_Reny

Renys Mutter war kurz darauf verstorben, nachdem Renys Bruder im Alter von etwa Vierzehn Jahren die Leukämie überlebt hatte.
Vielleicht konnte Renys Vater, zeitlebens silbergrau, der Dorfarzt, nach diesem Ereignis zu niemandem mehr freundlich sein. Auch nicht zu uns Kindern, die in seiner Praxis die Impfungen erhielten. Auch nicht zu seiner einzigen Tochter Reny.

Als Renys Vater wieder heiratete, kaum aus Liebe, war Reny in einer schwierigen Phase, und zwischen meiner Mutter und der neuen Mutter Renys wurde vereinbart, dass ich mich ab und zu mit Reny treffen sollte.

Als ich ein Jahr später das fünfte Schuljahr in der Sekundarschule wiederholte, wurde ich neben Reny gesetzt und aus uns wurde so etwas wie beste Freundinnen.

Reny wollte ein Junge sein. Ihr Gesicht hatte etwas von einem verschüpften Entlein, umso tragischer waren die Minuten, die Reny nach dem Turnunterricht vor dem Spiegel zubrachte, um ihr dünnes blondes Haar mit Haarspray von L’oreal Studio Line am Kopf entlang zu betonieren.

Jedermann hatte damals L’oreal Studio Line bei sich in der Tasche, und wenn ich mir den Duft vergegenwärtige, dann spüre ich einen unartikulierbaren seelischen Schmerz.

Reny war also etwas hässlich, führte sich ruppig, wie ein Junge auf, aber sie war eine blitzgescheite Schülerin.

Als sie das merkte, fing sie an zu strebern, säuselte dem Lehrer und wollte, wenn möglich, für gemeinsame Schularbeiten nicht

mit mir, sondern den Gescheiten zusammen sein.

Wofür mich Reny brauchte, das waren ihre Zweifel an ihrem Äusseren, ihre geheimen sexuellen Wünsche (sie war in den Musiklehrer verliebt), kurz: für alles Verbotene und Delikate.

Oft fuhren wir mit dem Lift durch das gläserne Innere der Doktorvilla hinunter in den Keller, wo sich ein beheiztes Swimmingpool räkelte. Wir stiegen in unsere gerippten, hoch geschnittenen Badekleider, stellten uns an den Rand des Pools und tratschten.

Reny wurde aufeinmal immer schöner und selbstbewusster. Unter ihrem kleinen, burschikosen Gesicht nahm ihr Körper die Silhouette einer langbeinigen Pamela Anderson an, eine Gazelle mit schlanken Fesseln, breitem Becken und üppigen Brüsten an feingliedrigen Armen. All das versteckte Reny hinter losen T-shirts mit goldiger Aufschrift: CALIFORNIA.

Reny streberte nun für das Gymnasium und gab sich kaum noch mit mir ab.
Am Schulabschlusstheater gab sie in der Montur Michael Jacksons einen fabelhaften Moonwalker, und heimste dafür schallenden Applaus ein.

Später machte sie ihren Traum wahr und wurde Geologin in San Francisco.

Den frühen Tod ihres Bruders stürzte Reny in eine tiefe Depression, sie kam für ihn ein paar Wochen zurück in die Schweiz
und suchte den Kontakt zu mir. Sie hatte neben ihrem unheimlichen Ehrgeiz immer noch diese grausame und direkte Art, für die ich sie gemocht hatte. Ich sprach ihr mein Beileid aus, konnte mir nur halbwegs vorstellen, was sie durchmachte, sie, die mit Zehn
die Schreie ihrer sterbenden Mutter im Schlafzimmer gehört hatte.

Trotzdem wollte ich Reny nicht bei mir empfangen und versuchte mich vor einem Wiedersehen zu drücken.

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