Als ich noch sehr klein war, klingelte es regelmässig an unserer Haustür. Die Nachbarin, Frau A., stand meistens in aufgelöstem Zustand da und beklagte sich in grosser Erregung über irgendetwas. Ich war zu klein, um zu begreifen, dass das Objekt ihrer Klage ihr Ehemann Sigi war, ein Deutscher, wie sie und als Berufsmilitär so gut wie nie zuhause. Sigi, soviel wurde mit der Zeit klar, war ein verwegener Mann, er besass den Militärflugschein.
Frau A., verkaufte unter der Woche dicke goldene und silbrige Gürtel an einem Stand im Loeb. Ihre Nägel waren künstlich aufgesetzt, rot oder pink, die Lider mintfarben geschmickt, dicker Mascara, kräftig Rouge und eine sehr helle Fondation verwandelten ihr Gesicht ein klein wenig in eine Travestiekünstlerin. Natürlich kannten wir damals so etwas nicht. Also war Nachbarin A. für uns einfach ein exotischer, leicht aufgeplusterter farbiger Vogel, der trotz seines schönen Äusseren immer unglücklich war.
Eines Tages, es war das letzte mal, dass wir Nachbarin A., im Flur bei uns trafen, entblösste sich vor uns sozusagen zum erstenmal ihr Gesicht. Die Schminke lief in langen Tränenbächen über ihr Gesicht, bräunliche Pigmentflecken kamen zum Vorschein und ein trauriger rot verschmierter Mund kämpfte mit der Erschütterung: „Er hat mich verlassen.“
Etwa ein Jahr später holte Frau A. ihre Schwester und den Neffen zu sich und liess das zweistöckige Einfamilienhaus um zwei weitere Etagen aufstocken. Das Haus, das über dem unseren am Hang stand, hatte jetzt etwas von einem Turm, der mit seiner ausladenden, absurd hohen Fassade die Abendsonne verdeckte.
Wir hatten nun kein Abendrot mehr, weil Sigi, dieser untreue Windhund, so mein Dad, Martha verlassen hatte.
Die Tragweite des Begriffs Scheidung verstand ich nicht. Aber ich interpretierte die Situation lange so: immer, wenn ein Mann und eine Frau sich scheiden lassen verschwindet die Abendsonne hinter einem übergrossen Gebäude und lässt sich in der Regel lange nicht wieder blicken.