Evolving Bern, 2005 (ein ausnahmsweise veröffentlichter Text) von M.J. Suter

Von den zweithundertausend Jahren, die dem ersten aufrecht gehenden Menschen dazu dienten, die Erde zu bevölkern, streunte er mehr als die Hälfte frisch und frei in der Gegend umher. Dann wurde er sesshaft. Ein Verschlag aus Blättern und Steinen schützte ihn vor wilden Tieren, etwa einem deftigen Schlangenbiss. Auf das Tipi aus Büffelhaut folgten die Bienenkorbhäuser, einfache Fachwerk-, Block- und Steinhäuser.
Die Menschen von Catal Hüyük verlustifizierten sich vor zirka sechstausend Jahren auf den Flachdächern ihrer Lehmhäuser. Ein Stück Lehm, legt man es an die Sonne, trocknet und wird hart, schiebt man es gar in den Ofen, ergibt sich daraus der kompakte, rötlich gefärbte Backstein. Beispiel: die um Zwölfhundert gebaute Lübecker Marienkirche. Sie ist nicht so anmutig wie der Tempel auf Ägina, der wegen seines Baustoffs (Stein) erstaunlich gut erhalten ist und der wiederum in keinem Verhältnis zum französischen Schloss Chambord steht. Dort mussten die körperlichen Ausscheidungen dereinst einen kilometerlangen Fall zurücklegen, bevor sie im Turmschacht leise dumpf aufprallten, wobei nicht selten ein kletterfreudiger Dieb, dem König feindlich gestimmter Eindringling, unter der erstickenden Masse begraben wurde.
Und nun zu dieser, meiner Behausung. Ich lebe in einer Mansarde (Franz Mansart) direkt unter dem Dach. Das Zimmerchen ist gut isoliert, die Wände abgeschrägt. Nichtsdestotrotz wurden in diesem Sommer einige geräuschempfindliche Reparaturen wie Balkonsanierung und Fensterauswechslung vorgenommen. Der Heizkessel im Keller wurde aus seinem Fundament herausgerissen und durch einen neuen ersetzt, der jetzt tropft. In einem Schreiben, das ich neben dem Abtritt in einem Flechtkorb aufbewahre, entschuldigt sich die Hausverwaltung für diese langwierigen Unterhaltsarbeiten und gratuliert zum neuen, schalldichten Fensterglas. Auf eine subtile Art und Weise, so quasi durch die Blume, wird zudem auf die minimen finanziellen Veränderungen, die diese Bauerei mit sich gebracht haben hingewiesen.
Ich fühle mich weder einer Gruppe zugehörig noch verbringe ich die langen Winterabende am prasselnden Herd einer Gemeinschaftsküche. Seit langem verspüre ich den Wunsch nach einem dicken, fast schon fettleibigen getigerten Kater. Dafür bräuchte ich eine Wohnung mit Auslauf oder Balkon. Ich habe an vierundzwanzig Liegenschaftsverwaltungen dieser Stadt ein Brieflein geschrieben, worin ich dieses Bedürfnis auf ein knappe, ehrliche Art formulierte. Unter anderem an die Optimalife und die Florentia AG.
Die Direktion für Planung, Verkehr und Tiefbau ist zur Zeit mit den Gleiserneuerungen im Westen der Stadt beschäftigt. Randsteine müssen abgesenkt, die Radien einer Kreuzung gleich gestaltet, Differenzierungen entsprechend der Weg-Hierarchie eingehalten werden.
Was so eine Stadt erbaut und erwirtschaftet, als würde sie schlucken und schlucken, wird unter dem hektischen Übergangsschritt des Städters abseits des Lichts verdaut. Durch ein labyrinthisch angelegtes Netz aus Rohren, Schächten und obskuren Säcken fliesst und gurgelt allerlei Mischwasser. In den aufgeschütteten zeltartigen Erdgruben kauern den lieben langen Tag stachelbärtige Männer und verlegen neuartige Kunststoffrohre aus ungesättigten Polyesterharzen. Wenn man sie fragt, was da los sei, schauen sie einen an, mit von der Bise zuckerroten Nasen und sagen: „s’Elektrische.“
Nie konnte ich über eine Stadt unzufrieden lästern oder sie aber in zu hohen Tönen loben, als handle es sich bei ihr um eine menschliche Gestalt. Wenn schon, müsste man ihr komplexes Gebilde auseinander nehmen wie ein Kartenhaus. Vielleicht ist es möglich, von der Solidität der hiesigen Gebäude ein wenig auf die Solidität der menschlichen Bekleidung zu schliessen. Diese Bekleidung ist womöglich eine solide Verschalung, eine Art Innenverputz der hier ansässigen Seele.
Unbefugt und fahrlässig habe ich mein Fahrrad in dieser Stadt mehrmals in Baustellennähe abgestellt, so dass es eines Tages kostenpflichtig abtransportiert wurde. Wegen Strassenlärm und Teerwalzen mache ich gerne Umwege oder streife nachts durch Quartiergegenden hinunter an den Fluss. Obschon sich die Allez-Hop-Träff-Schilder in letzter Zeit pilzartig vermehrt haben, flaniere ich dort am liebsten.
Bei den Rumpfbeugen werden Kopf und Schultern im Rhythmus des Ein- und Ausatmens langsam angehoben und ebenso vorsichtig wieder gesenkt. Wichtig ist eben, das man sich dabei nicht versteift, weil man sich sonst einen bösen Nackenzwick holt.
Manchmal steht der alte Mann, der unmittelbar am Fluss seine Bleibe hat, im hohen Wiesengras und putzt mit einem Stofflappen seine rostige Sichel. Seine Bewegungen sind träge und gleichmütig, sie ähneln dem dichten schlangenschönen Wasser, das sich tiefgrün und formvoll durchs Flussbett voran schiebt. Einmal zählte ich hinter der Umzäunung siebenundvierzig Schafe. Es war ein Nachmittag im Hochsommer. Der Fluss seufzte stumm.
Die Luft flirrte. Da entdeckte ich im Schatten eines Baums ein zusammengerolltes Schaf, das wie leblos dalag. Ich kitzelte es mit einem Ästchen, schob mit den Händen seine schwere, fein duftende Wolle durch den Zaun an. Weil ich davon ausgehen musste, dass das Schaf tot war, wusste ich lange nicht, was machen.
„Liebe Florentia AG“, schrieb ich an die Liegenschaftsverwaltung Nummer eins dieser Stadt, „beim Betrachten der neuen Balkone an der Frontseite unseres Hauses ist mir aufgefallen, dass die alten einen gewissen Liebreiz besassen. Ich selbst habe ja keinen (Balkon), doch träume ich von einem, und wenn er nur nicht mit mir und samt meinem Kater in die Tiefe stürzen würde … bitte sag … es würde mich interessieren, woher du die Bedürfnisse und Wohnvorstellungen der hiesigen Mieter so genau zu kennen glaubst, meine, das versichere ich dir, kennst du nicht! Glaube, es hat mir weh getan, als eines schönen morgens die vor Lebenskraft strotzende Eiche in unserem Garten mit verzerrter Mimik aus der Mülltonne guckte. Meine Nachbarin, die süsse Sabrina, schlüpfte noch schnell im getupften Schlafanzug aus dem Haus und brachte ein paar dieser mit kernigem, dichtem Nadelkranz behangenen Äste in Sicherheit, denn es war gerade Weihnachtszeit.
Die Querelen um den Altbau ein paar Häuser weiter habe ich nur am Rande mitbekommen, beobachtete aber, wie die langjährigen, gekündigten Bewohner, übrigens Selbstversorger und in sozialen Berufen tätige, die Hausfassaden mit schwarzen Plastikstreifen schmückten. Öffnete ich mein Fenster, flatterte der Trauerflor wie Indianerschmuck im Wind, und ich sah unzählige, zitternde Finger wie im Rausch gegen die Hausmauer doppeln. Danach folgte eine Zeit des Hämmerns und Bohrens, angestiftet von den jetztigen Bewohnern, stadtbekannten Kulturschaffenden. Was das Haus Nummer zweiunddreissig, also gerade auf der gegenüberliegenden Strassenseite, angeht, so soll es, soviel ich gehört habe, Ende Jahr abgerissen werden. Vorerst dient es noch als Unterschlupf eines Rudels lebenslustiger Schauspielschüler, die hin und wieder nächtlichen Besuch empfangen, da sie gerne nach Mitternacht ein wenig Trommelspielen.
Bei allem Komfort, den wir benötigen, liebe Florentia, bitte unterschätze uns nicht. Diese Stadt hat einige recht hübsche Winkel. Ich hoffe, dass mein Fahrrad, sollte es auf Entdeckungsreise sein, diese zu Gesicht bekommt. Falls du es antriffst, bitte sage ihm, es soll in erster Linie die Menschen und nicht allzu sehr die sie umgebende Infrastruktur betrachten und mir rechtzeitig darüber Bericht erstatten. Sind sie liebenswürdig oder nur höflich? Worauf sind ihre Augen grundsätzlich gerichtet? Wie ist ihr Verhalten bei abruptem Hagel, dem Anblick von Randalierern, in der Take-Away-Warteschlange? Ist das, was sie an ihren Füssen tragen, vom Charakter her komfortabel, indivdualistisch, unscheinbar oder schick?
Mein Fahrrad hat seit einem dummen Zusammenstoss kein Schutzblech mehr und hört auf den Namen Jakobli.
Ach, bevor ich es vergesse: ein Siphon im Badezimmer rinnt, ich denke, es liegt am Gummiring innerhalb der Verschraubung. Er ist wohl über fünfzig Jahre alt und langsam brüchig. Ich habe seit dem letzten Jahr eine alte Pfanne darunter gestellt, die das hinuntertropfende Wasser auffangen soll. Ich entleere sie regelmässig, doch neuerdings schwappt das Wasser über, wenn ich dusche. Es gibt Vorgänge im Leben, über die sich die Phantasie kein rechtes Bild machen kann. In solchen Punkten ist man auf die Hilfe von aussen angewiesen. Im Moment weht eine eisige Bise. Der Heizkörper innerhalb meiner vier Wände ist voll aufgedreht. Sein Zweck ist eine unendliche Wohltätigkeit. Ich bin eine Zimmerfee in warmem, seidigem Schleier …“
Wenn diese Stadt doch eine menschliche Gestalt wäre, dann sollte sie eine Witzige sein. Das Welterprüfte ist mir nicht so wichtig. Der schiefe Turm von Pisa ist schon während seiner Erbauung auf der einen Seite im Sand abgesackt. Ein Architekt versuchte die Schieflage zu beheben, indem er die sich neigenden Geschosse aufstockte, was nicht gelang. In Piräus glich jedes Haus dem andern aufs Haar. Bei uns ist die Marktgasse spannend, bei unseren Ahnen waren Tempel und Theater die prächtigen Bauten. Als mit der Industrialisierung die Fabriken kamen, lebten die englischen Arbeiterfamilien in kleinen Cottages unter verschmutzten Eisenbahnbrücken. Der Main Tower, die Shanghai Bank und andere Wolkenkratzer dieser Welt werden von einem Gerüst aus Strebebalken eingefasst, doch ein Gesetz lässt sie schwanken. Es gibt eine Variante des Ziegeldachbauens, die nennt sich Mönch und Nonne, weil immer ein Ziegel (genannt Mönch) über den andern (genannt Nonne) geschoben wird. Was den Hausbau anbelangt, so kümmert sich der Stuckateur um den Verputz, der Installateur um die Toilette, und der Elektriker ist für Wasser, Strom, Telefon zuständig. Es gibt in dieser Stadt fünf verschiedene Typen öffentlicher Abfalleimer. Der bekannteste darunter ist derjenige mit der Flammenzeichnung. Plakatierungen an öffentlichen Wänden und Mauern führen zu einer Überlastung des Raums. Podeste sind nicht erlaubt. Eine mit Fertigmörtel erstellte Poren-Betondecke trägt das Gewicht eines Jumbo-Jets. Beim Aushub muss zudem beachtet werden, dass die Grube grösser ist als das geplante Gebäude. Auf dem Postdamer Platz gibt es neun Kinos und dreittausendvierhundert Sitzplätze. Wendeltreppen bedeuten Weltachse und führen zum Himmel.

Marion Suter, Bern, 27. November 2005 (Auftragsarbeit)

 

Tags: No tags

6 Responses

Add a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *