Nachdem Doktor Maus gegangen ist, fühle ich mich erschöpft und leer. Ich trete auf die Terrasse, um nach Mogli zu sehen, der auf der andern Seite der Strasse unbeweglich in der Schafswiese sitzt. Wenn er nur nicht wieder eine Maus heimbringt!, denke ich. Die Luft ist klirrend kalt, der Himmel blau. Über dem Abhang kreuzen Vögel in langen Bahnen, tanzen wie Jojos übermütig auf und ab,. Dann verschwinden sie wieder. Das tun sie immer, wenn das Wetter kurz aufklart und sich die nächste Wolkenfront nähert, denke ich und lege mich zurück ins Bett.
War ich zu Doktor Maus etwa zu streng? Ich habe ja nur erwartet, dass sich jemand mit meinem Dossier befasst. Jemand sollte hinsehen, auf mein Verschwinden, ein einzigesmal! Aber noch während ich auf eine Antwort von Exit wartete, habe ich auf einmal eine Feststellung gemacht: ich bin ja gar nicht die Einzige, die verschwindet. Tiere, zum Beispiel, verschwinden auch. Sandbänke verschwinden. In Lateinamerika gibt es sogar einen Tag, der sich nach verschwundenen Menschen benennt. Auf der der Website zum internationalen Tag der Verschwundenen heisst es: ‚Eine verschwundene Person ist, solange sie verschwunden bleibt, ein Rätsel. Der Verschwundene passt in kein Raster, ist ein Mensch ohne Materie.’
Diese Verschwundenen lässt man also verschwinden, habe ich gedacht. Und zwar so, dass niemand dabei zuschaut. Und weil niemand dabei zuschaut, kann keiner ihre Geschichte erzählen. Ich aber kann meine Geschichte noch erzählen, zumindest mir selbst, oder etwa nicht?
Ja, und das habe ich ja versucht, über viele Jahre. Es war eine Geschichte über mich selbst, die entstand, erstarrte auf Papier, Papier kam ins Alter. Ich tauchte ab. Wieder auf. Alter Ego. Aber eine Geschichte, die man sich selbst erzählt, kann man einmal so, dann wieder so erzählen! Und überhaupt, wie macht man das, die eigene Geschichte, die Geschichte von sich selbst, sich selbst erzählen?! Nicht mal Amber und Johnny haben das geschafft! (Und die hatten immerhin eine gemeinsame Liebesgeschichte!) Aktuell lassen sie sich ihre Versionen der Geschichte durch gerichtliche Zeugen neu erzählen. Sie selbst können nicht mehr miteinander reden bis zur Versöhnung. Zu komisch!
Ich habe immer geglaubt, wenn ich mich nur klar und deutlich ausdrücke, dann schaff ich das; mit den Ärzten, mit den Bekannten und Verwandten, den Missgünstigen und Fremden, wenn ich nur rede, und niemals damit aufhöre, dann ist die Lösung die logische Folge des Redens! Aber es hat nicht funktioniert. Je leidenschaftlicher ich für die Anerkennung der Erkrankung kämpfte, umso weniger fühlte ich mich verstanden. Also gab ich auf und fing stattdessen an, von einer ganz anderen Sprache zu träumen, einem letzten, grossen, sehr, sehr persönlichen Satz, zwar. „Ich liebe dich!“, hiess er. Und ich sprach ihn zu meiner Liebe, die mir, oh Wunder, per Zufall über den Weg lief. Ich kriegte gar nicht genug von diesem Satz. Bis mein kleiner Pinson anfing, sich darüber lustig zu machen. Da verlor dieser Satz sage und schreibe seine Bedeutung und ich wie meine ganze, letzte Persönlichkeit!
So reiht sich also die Liebe unter jene Verschwundenheiten, die ich bereits aufgezählt habe: Tiere und Pflanzen, Inseln, Landstriche, ganze Dörfer. Selbst Gesteinsschichten. Zeugen, die zu spät kommen. Sprachliche Gebräuchlichkeiten, Lebensläufe, in der zu verwirrenden Komplexität der Umstände. Wer mal drein geschlagen hat, worauf zurückgehauen wird. In einer Zelle, wie Brian. Lebensjahre, stehengebliebene Uhren, Socken, Schwüre und Testimonys. Usw. Wer möchte da nicht lieber fliegen?
(Am Schwierigsten dünkt es mich, die Sätze zu beschneiden, weil es in meinem Denken eigentlich keine Punkte gibt resp Komas. Sobald ich mein Ohr den stilistischen Fragen zuwende, kann ich aber gar nicht mehr schreiben, Beschreibungen, wie anfangs, von Landschaften oder Gegenständen finde ich am Schwierigsten, Wahrnehmungen leichter und Dialoge am Leichtesten. Darum halte ich die ganzen letzten Seiten vermutlich nur noch Dialoge, weil ich einmal vollkommen frei sein will in der Sprache.)