Ziemlich viel Zeit und Aufwand verging, bis ich es endlich dorthin (die Altstadt von Bern) geschafft hatte. Als ich dort ankam, war ich bereits so unsicher auf den Beinen wie früher, vor diesen sieben beziehungsweise fünfzehn Jahren räumlicher Abstinenz, damals aber nach 4 Stangen. Ich sagte sieben respektive fünfzehn Jahre war ich nicht dort, mit letzterem ist das Jahr 2007 gemeint, als ich mit Bier und Ausgang für ein und allemal Schluss machte.
Eigentlich bin ich immer noch betrunken.
Das Glücklichste an der Sache dünkt mich doch, dass ich irgendwie heil wieder daheim angekommen bin. Aber noch besserer Laune werde ich sein, wenn mir dieser komische Rausch ausgefahren ist und ich wieder normal nüchtern und zu Tode depressiv sein darf.
Der Taxifahrer war aus der Türkei und sagte, früher sei alles besser gewesen. Ich sagte ja, und musste dabei diskret meine schöne graue Manchesterjacke unter den Po schieben, weil ich- ochherrje, wie es von früher so meines Körpers Brauch ist- alles, alles … naja… verblutet hatte, eben exakt wie in den guten alten, beschissenen Zeiten meiner Tweens und Dreissigern.
Ich sagte, wie gesagt, ja, ja früher war alles besser, die Post hat Personal abgebaut, ich hätte gerne in den 20er Jahren gelebt und Sie? Wissen Sie, dass da, wo ich wohne ,früher die Vicusstrasse war und noch so keltische Überbleibsel herumstehen im Gestrüpp, he weisst du das? Und so weiter, weitere solche Spässchen. Ich weiss nicht, ob der Taxifahrer die Römer kennt, ich glaube, anhand seines Schweigens, hat er noch nie von ihnen gehört. Macht auch nichts.
In den 3Eidgenossen sah ich so viele Menschen, wie lange, lange nicht, doch bis auf die ergraute Servierdüse, erkannte ich kein einziges Gesicht wieder. Da ich massiv Durst hatte trank ich schnell, und nach etwa der Hälfte kam ich annährend, annähernd in die Nähe einer angespannten Entspannungsverwandtschaft, (dies wäre bitter nötig gewesen nach einer Woche Comedy with der städtischen Steuerverwaltung wegen meines verschwundenen Be-Login-Kontos.) Relaxed würde ich es nicht nennen.
Mir fiel auf, dass ich die Rundbogen der Lauben betrachtete, die Art, wie die Lampen in den Gängen hingen und dass ich diese Dinge niemals gesehen habe, vor fünfzehn Jahren, als ich hier noch Saufen ging. Das Gestein der Lauben ist nicht ganz ebenmässig, es ist sehr schön, finde ich, trotz des drückenden Charakters, den die Bögen den Gassen verleihen.
Nach einiger Zeit begann alles Andere als das Gestein mich zu bedrücken, ich hätte viel darum gegeben, wenn Chris Rosales kurz vorbeigekommen wäre. Mit ihm habe ich früher immer einen eleganten amerikanischen Livechat abgehalten- auf der Höhe der bestmöglichen Stimmung und Lebendigkeit für den Moment! Rocker Chris Rosales, mittlerweile wohl auch erglatzt, war nirgendwo und auch sonst war niemand des damaligen Inventars da. Da dachte ich aufeinmal, ob vielleicht diese Leute, die damals hier abgehängt sind, alle in meinem Alter und zehn bis zwanzig Jahre älter, ob die vielleicht auch abgeknackt sind …. mehr oder weniger …. so, wie ich. Ich habe gedacht, dass einige vielleicht sogar das Zeitliche gesegnet haben wegen der Leber. Und dass ich dumm gewesen bin, zu glauben, die längste Zeit, nur ich sei der Vergänglichkeit dermassen preisgegeben.
Viel, viel hätte ich darum gegeben, wenn Z vorbeigekommen wäre, er, der mich als Tween wie ein Lehrer abkanzelte, aber ich habe immer gedacht; das ist Kierkegard, dieser Z. mit seinen blauen Augen und dem roten Haarbüschel auf dem Kopf. (Ich habe Kierkegard einmal versucht zu lesen, vergeblich.) Ich habe immer gehofft, dass der doch noch vor mich niederkniet, obschon ich ein solch unheiliger Proll bin. Aber er hatte eine Gescheite, sehr Gescheite, ich habe sie niemals gesehen. Aber jetzt hätte ich liebend gerne Kierkegards Gesicht im Laubenbogen entdeckt, dieses Kindergesicht, hinter dem der Priester sicher immer noch hockt und darauf lauert, Weiber abzukanzeln, die ausgerechnet mit ihm Schmusen wollen.
Ich weiss nicht, ob das Saufen mich vulgär gemacht hat, und also, ob der Alkohol eine versteckte, obszöne Seite von mir zu Tage brachte, damals in diesen mageren Nächten. Es ist gut möglich. Chris Rosales hat mal gesagt: You have a true face. You are the most edgy woman I know! Das war noch bevor wir zusammen Schlittschuhlaufen gingen, Kuven?, auf denen ich nicht die beste Figur machte, im Gegensatz zu Chris, der auch auf dem Eis ein Rocker war.
Vielleicht hätte ich nach Kalifornien gehen müssen, um weitere Männer zu treffen, die mich für die geerdeste Frau auf Erden halten. Ich selbst habe schon gewusst, dass er Recht hat, auf jeden Fall im Suff. ich weiss, was er meinte mit meiner Erdigkeit.
Als ich langsam betrunken wurde, merkte ich, dass es sich niemals gelohnt hatte und niemals lohnen würde, die 3E abzuklappern und ich bekam Schiss, ich würde es nicht mehr heim an die Vicusstrasse schaffen.
Dann kam A., legte zwei Schmierzeichnungen vor mich hin und sagte: ich will zehn Franken dafür! Oha, er hat sich in den letzten zwanzig Jahren auch eine Gehaltserhöhung gestattet, kann es ihm nicht verübeln, da ja alles so viel teurer wurde in der käuflichen Welt. Er sieht immer noch gleich aus, ein Bettler, der nicht aufblicken kann vom Boden, und also immer irgendwie so schräg vom Boden her aufblickt….. und doch muss er diesen Blick wagen, will er irgendwie überleben……
Ich habe an Robert Walser gedacht, der den Serviertöchtern Hundertfranken schenkte, für irgendwelche Blicke, der arme, arme Hund und kokettierende Räuber.
Ich habe A. die Malereien abgekauft, denn ich denke, ich machte einen soliden gutbürgerlichen Eindruck mit meiner teuren Wellness-Brille, den schwarzen Palazzohosen und der dunkelgrauen Manchesterjacke. Die Zeiten, wie ein Flittchen Rumzulaufen, sind vorbei, jedes Stück Haut muss mit schwarzem, weitem Stoff bedeckt sein, will ich den Schaden fürs Auge minimieren. Aber ich habe doch geweint vor Verzweiflung, bevor ich loszog, dass absolut nichts mehr auszubessern ist an meiner Silhouette und dass mein Gesicht seinen Nimbus über Nacht verloren hat, seit ich das Haar geschnitten und diese Brille hab.
Nichts ist mehr so, wie es scheint. Alles ist nur noch, wie es ist. Als Kontemplat sehe ich, dass die Ausgelassenheit und Fröhlichkeit in den Jungen fortlebt, die mit aufgekratzten Reden durch die Strassen ziehen, ich sehe Achtzehnjährige HandinHand im Wippschritt und ich weiss, dass sie jetzt leben und glücklich sind, in diesem Moment, obschon sie nicht wissen, dass sie gerade durch die hässlichste Strasse dieser Stadt, die Neuengasse, gehen. Diese Strassen da, am oberen Ende, vor dem Loeb, sie verursachen mir einen Schock, ein Gefühl innerer Not, weil alles so hingeschmissen wirkt, so grässlich unversöhnlich. Dabei hat man dort, Elfjährig, am Waisenhausplatz in einer dieser notleidigen Buden zum erstenmal stolz ohne Eltern eine Portion Pommes im Faltteller gegessen! Zum erstenmal eine Jeans oder einen billigen Fingerring gekauft in der familiären EPA …!
Die Kellnerin vom 3E ist wirklich sehr, sehr grau geworden, ich erschrak ein wenig, als ich sie erblickte. Im Gegenzug muss sie in mir einen dicken schwarzen Käfer mit stumpfem Haar und schlaffem Mundwinkel erblickt haben. Aber wir haben uns doch erkannt, an den Bildern unserer Gedächtnisses, und weil sich unsere Augen nicht verändert haben, ich meine damit diese ganz bestimmte Beseeltheit, die lebendigen Augen erst das Schauen verleiht, und das sich bei jedem Menschen von Kind bis zum Greis gleich bleibt.
Sie hat ein Bieruntersätzli genommen, die Hälfte davon abgerissen und ihre Telefonnummer darauf geschrieben, vielleicht, weil ich gesagt habe, dass ich seit sieben Jahren nicht mehr im 3E war wegen dem Chronic-Fatigue-Schmarrn, oder aber, ich weiss auch nicht wieso. Allzu geheuer war es mir nicht, denn es war so zuvorkommend und nett. Aber die Geste hat mich dann an noch weiter zurückliegende Vergangenheit erinnert, als ich im Thuner Alpenrösli mit Henri, dem everlasting Lebendigkeitsstich, Botschaften auf Feldschlösschendeckel kritzelte, dumme, dumme Botschaften … mein Gott!
Aber ja, gibt es denn nicht Momente, auf die du gern zurückschaust und die du nicht missen möchtest, fragt R., und ich sage stampfend: Nein! Nein! Nein! Rede mir das bloss nicht ein!
Weil ich eben nicht wollte, dass das Leben immer nur aus Momenten besteht, sondern etwas von diesen Momenten hinunter wächst, wie Wurzeln des Baums in die Tiefe, dass irgendetwas Tiefes sich über den Zeitraum von Jahren einstellt, das gut und glanzvoll, solid und unverbrüchlich ist …. das den Moment in seiner liderlichen Flüchtigkeit überlebt …..!!!!!!
nicht die Chronifizierung von Krankheit und Versagen, sondern die Chronifizierung von Tagen, Wochen und Jahren, in der es eine Form von Stabilität gibt, ein Ground, aus dem eine Erfüllung erwächst ….. (ich denke an C. und weine), aber dahin bin ich nicht gelangt, ich habe nichts Handfestes, habe irgendwie nichts in der Hand, obwohl ich doch so lange schon lebe, weil ich verharrt bin, verharrt ….. (so, da wären wir wieder, beim Lamento), in meinen eigenen Worten, die sich auf eigenartige Weise in Luft auflösen, sobald sie ausgestossen werden … und weil ich sie fast nur noch unreflektiert ausstossen kann ….. als Bruchstücke ….
Worte sind nicht materiell, Schreiben ist nichts Materielles … es ist nur wie ein-und ausgestossener Atem …. es gab mir dieses irrsinnige Gefühl von Lebendigkeit lange Zeit … und doch löste sich damit nicht diese Ferne …. die sich so kalt anfühlt, jetzt. Aha, das Bier ist mir ausgefahren, der Körper zittert erschöpft, eine Art Gummihandschuh legt sich um den Herzmuskel, ein bisschen python-artig ist das jedesmal aufs Neue. Schleunigst unter die Decke und die letzte Prise Kraft ruhigstellen, einsparen das letzte bisschen Kraft, weil ich ein Stündchen im Ausgang war nach sieben Jahren.
Das Bier schmeckte gut, es war kein Helles. Dunkles Bier hat diesen satten lehmigen Geschmack.
Und doch träumte ich heimlich von einem Glas Rotwein. Tiefroter, fast bläulicher, leicht süss-rosiger Bordeaux, gestampft aus sonnengereiften Trauben.
(14.5.22)