Wegrand_ 3004_Diary_Testimony ohne Zeugen

Ich muss sagen, dass ich die Natur nur wahrnehme, weil sie per Zufall da ist, nicht aus einem speziellen Interesse. Ich stelle zwar fest, dass ich in ihr Formen und Silhouetten, verschiedenes Gewebe und Oberflächen entdecke, dass ich das alles von Aussen betrachte, während ich es früher gar nicht betrachtete. Ich kenne auch so gut wie keine Pflanzen- oder Blumennamen, ich bin unbewandert in der Sprache und Funktion der Botanik. Und vielleicht ist gerade diese Ferne, die ich zur Natur habe das Angenehme an ihr für mich. Ich habe früher die Formen und Silhouetten der Menschen beobachtet, habe auch kühn in die Gesichter geschaut (wie in die Blüte!), und dies war viel aufreibener und für mich packender zugleich als die Pflanzenwelt.

Manchmal ist es vielleicht besser, keine Ahnung zu haben. Oder eben möglichst wenig Ahnung, und also versteht man sich besser mit der Umwelt, wenn man nie in sie gedrungen ist, so, wie ich mich nun mit der Pflanzenwelt verstehe und der Menschenwelt nicht verstanden habe, weil ich etwas über den Kern der Menschen wissen, erfahren wollte, und dies, so wie ich nachträglich beurteile, als zu direkt empfunden wurde, zu drängend, eben.

Dass ich jetzt die Pflanzen nicht bezeichnen kann, näher bezeichnen, stört mich nicht. Übertragen auf meine Interaktionen mit den Menschen, würde ich davon ableiten, dass es besser gewesen wäre, die Emotionen und Wahrnehmungen nicht zu bezeichnen und dieses emotionale System nicht so vertiefen zu wollen. Am Schluss sind es doch nur dies Formen und Silhouetten …. die bleiben,

und von der Sprache und dem Benennenden bleibt nichts übrig.

Ich habe mir vorgenommen, dieses, mein Unwissen über die Natur in mein Testimony einfliessen zu lassen, und also, wenn möglich, rudimentäres emotionales Schreien in sanftes, melancholisches Naturbild zu transportieren, auch zu meinem Selbstschutz. Allerdings habe ich noch nicht mal richtig mit dem Testimony angefangen. Und ich weiss auch nicht, ob es jemals dazu kommen wird.

Dieser brühwarme Schrei und dieses Lamento, das mich wie heisses Wachs ausfüllt, erschwert es mir, ein paar Wahrnehmungen herunterzubrechen auf einen sprachlich erweiterten Absatz. Es ist, ja, es ist so, dass ich rudimentär und filterlos fühle, aber dann, ja, dann mit Reflektion und Sprache einen Schrei abdämpfen könnte, und die eigentliche Komplexität meiner sinnlichen Welt zum Ausdruck bringe. Aber irgendwie bin ich viel zu erschöpft, um auf diese Ebene zu gelangen, ich erreiche mein Gehirn nur mit kleinen Rehhüpfern und sacke dann wieder hinab in meinen schreienden Leib.

Die Idee, ein Telefonbuch aus den Jahren 71/73 abzuschreiben, als Basis für mein Testimony, habe ich verworfen, nicht zuletzt, weil es mich vor riesige technische Herausforderungen gestellt hätte. Ich habe versucht, das Buch im Bett aufzustellen, aber noch dann wäre es mir nicht möglich gewesen, die vierspaltigen, winzigen Buchstaben zu entziffern, trotz Brille. Ich hätte mich Tausende von Seiten vor- und zurückbeugen müssen, bei jedem zweiten Buchstaben. Es wäre eine schwere körperliche Arbeit gewesen. Sinnfrei genug wäre sie gewesen, doch ja. Aber irgendwie habe ich keine Motivation für Konzeptuelles.

Jedes dieser hellgrünen Blüten-Bündelchen wird von einem langfächrigen, grob gerippten Blatt-Hut bedeckt. Ich habe sie ausspioniert regelrecht in einem Versteck!

Heute war der1 2. Mai, und es war mal wieder der Awareness-Day für Myalgische Encephalomyelitis/Chronic-Fatigue-Syndrom! …. Aber das ist doch alles nur leere Luft …. es hat sich in acht Jahren „awarenessen“ nichts an unserer Lage verändert.

(13.5.22)

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