Jeanne Stürmchen: Marion, wie geht’s?
MJS: Es muss etwa fünfzehn Jahre her sein, als ich darüber grübelte, wie ich die Umgebung dazu bringen kann,
mir diese Frage nie wieder zu stellen. Ich hatte festgestellt, dass ich seit etwa zehn Jahren schon, also seit Herbst
Sechsundneunzig, nicht mehr geantwortet hatte: es geht mir gut.
Jeanne Stürmchen: Marion, wie geht’s?
MJS: Du bist eine Sadistin. Stell dir vor, du wirst jeden Tag gefragt: Hast du heute die Sterne vom Himmel geholt …
Du willst so unbedingt bejahen … du willst es laut hinausschreien: Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaa! Aber es würde
so sehr nicht der Wahrheit entsprechen, dass dich die Lüge: es geht mir gut, förmlich zerreissen würde.
Jeanne Stürmchen: Du hast 22 Jahre nie mehr geantwortet: es geht mir gut? Marion, stimmt es immer, was du sagst?
MJS: Ich finde die Frage gut. Es ist schade, dass diese Frage konkret so selten an mich gestellt wurde, eigentlich.
Man könnte denken, dass ich übertreibe, in einer subjektiv verzerrten Welt lebe. Oder dass ich einen unglaublich
hohen, ja, krankhaft hohen Anspruch an Gesundheit hätte. Nur: dem ist nicht so. Wie nämlich könnte ich meine eigene Realität verzerren, wenn es um den ausschlagendsten Punkt des Lebens geht, um das Körpergefühl, um die Energetik …?
Jeanne Stürmchen: Kannst du dir vorstellen, dass jemand die eigene Realität ohne massive Verzerrung wiedergeben kann?
MJS: Schon. Nehmen wir Kaspar Hauser. Solange er in seinem Verliess lebte, abgetrennt von der Welt,
vorausgesetzt er konnte etwas sprechen; hätte er seine eigene Realität verzerrend wiedergeben können? Ich
glaube nicht. Als er dann befreit und der Welt vorgestellt wurde, als man ihn einführte in die täuschend echte Welt
der Adeligen, Reichen und Mächtigen, die sich alle um ihn scherten; da zerbrach sein Selbst entzwei wie eine Glaskugel.
Jeanne Stürmchen: Was sind die Vorteile, wenn man in einem Verliess lebt und wie du, nur durch einen
künstlichen Spalt mit der Aussenwelt verbunden ist?
MJS: Ich kann viel frecher, viel kompromissloser sein. Ich kann viel verantwortungsloser Ich selbst sein.
Ich muss mich nicht mehr vergleichen. Ich habe keinen Massstab, den ich an mein Verhalten oder meine
Leistungen anlegen kann. Das ist auch schlimm und beklemmend. Ich bin schamlos. Denn ich lebe ja ohne
eine Bremse, ein Stopp auf eine Arbeit, eine Präsenz oder ein Verhalten von mir. Ich lebe ausgeschlossen in
einem künstlichen Spalt, eingeschlossen in mir, ein klein wenig wie ein Despot.
Jeanne Stürmchen: Vorausgesetzt, man würde dich morgen in die Welt hinaus stossen, mit Gewalt, was
wäre dann mit diesem Ich, das sich durch das Verliess geschützt und integer fühlt, allein integer und ganz
fühlen kann nur in seinem Käfig…?
MJS: Wie soll ich wissen, was Interaktion mit mir anstellen würde. Fest steht,
ohne Austausch mit anderen Menschen, sei es privat oder in der Arbeit, die man per Zufall tut,
lässt ein Vakuum entstehen. Und Menschen, die lange Zeit in einem Vakuum leben, zb. im Gefängnis,
radikalisieren sich gerne. Das kommt vom Ungleichgewicht, weisst du. Du kannst psychisch noch so integer
sein, die Reaktion der Aussenwelt ist entscheidend. Ist die Aussenwelt repressiv, wirst du auch entweder
repressiv oder aber opressiv, innen drin. Wenn die Antwort der Politik sechzig Jahre lautet: nein, diesen
Menschen in ihren Betten helfen wir nicht, dann wird etwas in dir diese Grausamkeit zurückspiegeln.
Und dies, wiederum, wird dazu führen, dass sich eine Welt, weit weg, auf dich stürzt, belehrt, verunglimpft,
und, wie oben erwähnt, für einen Verzerrer von Realität einstuft, die Realität, wie sie besteht, in Bezug auf
die Krankheit seit über sechzig Jahren, aber auch die eigene Realität. Und das ist noch fast schlimmer:
deine eigene Realität wird dir somit abgesprochen von Gruppen von Menschen, die nicht hinschauen.
Und dadurch, wenn man nicht hinschaut, beginnt die Verzerrung …..
Jeanne Stürmchen: Ich habe gefragt, was wäre, wenn man dich aus deinem Kokon sprengen würde….
MJS: Ich müsste all das, was ich mache, denke, wer ich bin, was ich von mir zeige, hinterfragen. Ich müsste
mich schämen, müsste versuchen, all das abzustreifen und ein Selbst entwickeln, das kompatibel ist mit
den Ansprüchen von Draussen. Ich müsste, und würde dies sogar irgendwie anstreben!
Aber ich würde versagen. Ich müsste mich sogar verleugnen….
Jeanne Stürmchen: Eine solche Macht haben Menschen auf dich?
MJS: Ja, immer gehabt. Seit ich nicht mehr in der Welt lebe, sondern im Abgrund, ist mein Selbstbewusstsein stark
gesundet, weil da keine Menschen mehr sind, die die Unverfrorenheit besitzen, mir mein Selbstbewusstsein
zu zerstören. Trotzdem möchte ich lieber gesund in einer unverfrorenen Welt leben, als krank in einem Kokon
der Umsichtigkeit. Da draussen kämen grosse Herausforderungen auf mich zu: ich müsste mich zum Beispiel hinterfragen,
pausenlos, ob ich gut genug bin, ob ich das Recht habe, das und das zu tun, ob es gerechtfertig ist, ob es sinnvoll ist
für die Andern usw., je nach Person und Gegenüber, wären Leistungen von mir klein und nichtig eingestuft, bedeutungsvoll
oder voller Fehler. Also ich rede natürlich von der Hypothese, dass ich Literatur mache. Aber auch, wenn ich
bloss Verkäuferin bin, wie ich es ja ein, zwei Jahre lang war, bin ich diesen Bewertungen ausgesetzt.
Im Bezug auf so etwas Unverfrorenes wie Kunst und Literatur, muss man mit einbeziehen, dass die Menschen
mit ihrer Ignoranz deine ganze Ingegrität zerstören. Es kann aber auch sein, dass dir dein Selbst plötzlich
von selbst zum lachen vorkommt oder aber es verschwindet einfach, von einem Tag auf den andern, je nachdem auf
wen und welche Menschen zu triffst, in welcher Ecke der Welt, Institution, Gruppe, Situation, vorherrschendes System usw.
du dich gerade wiederfindest.
Jeanne Stürmchen: Selbstbewusst sein tönt anders.
MJS: Ja? Vielleicht habe ich es falsch gesagt. Ich bin selbst, wenn kein Auge auf mir liegt.
Das Wort Selbstbewusstsein ist konfus, weil das Bewusstsein, sich selbst zu sein, ja nicht unbedingt
dazu führt, dass man automatisch sich selbst ist. Es kann ja sein, dass einem bewusst wird,
auf wie wackligen Füssen ein Selbstbewusstsein steht, gerade bei jenen, die selbst sind, wenn
alle Augen auf ihnen liegen. Bist du selbstbewusst, Jeanne Stürmchen?
Jeanne Stürmchen: Ich wusste nicht, wie moralisch du bist!
MJS: Bin ich nicht!
Jeanne Stürmchen: Bist du wohl!
Ich bin ja nur eine Figur von dir, oder sagen wir es ich war es …. wirst
du für mich nocheinmal einen Verwendungszweck haben? Das frage ich dich.
MJS: Ich weiss es nicht. Ich denke, falls ich ein zweites Projekt starte.
Aber irgendwie denke ich eher, ich nehme dich in mich zurück…
Jeanne Stürmchen: Dann hast du dich mit mir versöhnt, am Ende der „Stimme“?
MJS: Ich war nicht mit dir im Streit. Ich konstruierte aus uns zwei sich entgegengesetzte Persönlichkeiten.
Du hast die zweite Persönlichkeit ertränkt, das war dein gutes Recht. Du bist immer übers Ziel
geschossen, gefährlich euphorisch, die Euphorie deines energetisierten Körpers hat dich oft
die Nerven verlieren lassen, du hast nicht mehr gewusst, woran du deine Kraft und deine Gabe befestigen
sollst. Also hast du dich in mir zerstört. Sehr elegant und zärtlich, übrigens, nachts, in einem Nebenarm
des Amazonas….
Jeanne Stürmchen: Danke, aber was habe ich schon getan? Ich habe ja nur deine Anweisungen
ausgeführt, du Tyrann und Krüppel…
MJS: Oh, nein. Dies war der letzte Akt in der „Stimme“, hier gab es keine Anweisungen mehr.
Ich habe dich in mich zurückgenommen.
Jeanne Stürmchen: wirst du mich wieder mit deinem Neid zerfressen?
MJS: Nein. Wenn schon, dann werde ich dich erweitern. Ich werde dich ein klein wenig
anders erschaffen. Das ist es doch, was du willst?
Jeanne Stürmchen: Ja.
Wann wirst du mit dem „Sickhouse“ beginnen?
MJS: Wenn das Sommerloch zuende ist.
Vielleicht gar nie.
Jeanne Stürmchen: warum nicht?
MJS: Ich bin der Überzeugung, dass Schreiben aus einer tiefen Notwendigkeit heraus
geschehen muss. Ich weiss nicht, ob es notwendig ist, ein zweitesmal zu schreiben,
meine Motivation braucht einen grossen Schmerz, sonst bin ich zunichts fähig.
Jeanne Stürmchen: Du meinst, es ist da nicht mehr genug Schmerz in dir?
MJS: Ja. So ist es, fast. Es ist noch genug Schmerz da. Aber nicht genug, um ihn in Worte
zu fassen.
Jeanne Stürmchen: Und was ist mit einem Porno?
MJS: Porno?
Jeanne Stürmchen: Das wäre doch ein Kompromiss von genug Schmerz, bei nicht
genug Worten.
MJS: Mir schwebt da tatsächlich etwas in die Richtung vor.
Jeanne Stürmchen: Ja?
MJS: Ich will nicht viel verraten, aber mir schwebt es vor, über hundertzwanzig Buchseiten
ein männliche Gestalt in meinen Keller zu sperren.
Jeanne Stürmchen: ist das sexuell konnotiert?
MJS: Hm, wer weiss. Explizit werde ich nie über Sexuelles schreiben können.
Wenn ich darüber schreibe, dann möchte ich dies tun, fast ganz ohne
die Sexualsprache, die Begriffe, die Griffe …. ich möchte die Lust beschreiben ….
ohne den verbalen Hammer, der die Lust köpft; der Sex.
Aber ich glaube, ich bin zu faul für den Quatsch.
Jeanne Stürmchen: zu faul, einen weiteren Roman zu schreiben?
MJS: Auch das, ja. Schau, es brennt, auf meiner ganzen Haut liegt ein Brand.
Und die halbe Weltkugel geht in Flammen auf. Und dieses Feuer spricht
die Sprache der Not, die heissen Meere, die abbrechenden Berge, die
leeren Flüsse ….und diese Not verlangt ein Handeln.
Jeanne Stürmchen: Was hat das mit dem zu Faulsein für einen Roman zu tun?
MJS: Ich weiss nicht, ich glaube, Kunst hatte ihre Zeit, so bis Ende des 20. Jahrhunderts,
anfangs nur für die Reichen zur Unterhaltung oder Bildung, wurde sie allen zugänglich
und sie hat die Menschen reicher gemacht, da bin ich sicher, generell zumindest.
Aber jetzt … sind wir da in einer neuen Phase, in der die Ästhetisierung und Gestaltung
zum Schönen, die Verwandlung, die Erweiterung usw. stagniert, während auch dem
Künstler der Zustand der Erde über den Kopf wächst. Es ist nicht mehr die Zeit
für Feingefühl und Ausdruck. Man kann Gefühle nicht mehr transportieren,
man kann nur noch handeln…… und wenn sie nicht handeln, kooperativ und unter
Verzicht, dann wird Herr Darwin zum Zug kommen.
Jeanne Stürmchen: Du kannst nicht handeln ohne Körper.
Was willst du stattdessen tun, in deinem Bett, bis zum frühen Tod?
MJS: Ich mache vielleicht eine anonyme Telefonline: Jo, hört dir zu.
Brauchst du ein Ohr? Rede: ich lausche! Irgendwie so.
Jeanne Stürmchen: MJS, kannst du anderen gut zuhören?
MJS: Du bist heute so kritisch! Ja, ich kann zuhören, wenn ich die einzige
bin, die zum Zuhören gerade zu Stelle ist.
Jeanne Stürmchen: Und wenn jemand anderes zur Stelle ist?
MJS: Dann halte ich es für überflüssig, dass ich zuhöre.
Jeanne Stürmchen: Hm. Und was ist, wenn das, was dir anvertraut wird für dich
nicht relevant genug ist?
MJS: Dann werde ich mir wohl oder übel vorstellen müssen, dass etwas
für jemanden relevant ist, das in meinem Leben keine Relevanz hätte.
Und ich muss mich versuchen, in den Andern einzufühlen.
Jeanne Stürmchen: Viel Glück, rigorose MJS.
MJS: Danke, meine kleine, arbeitslose, zwecklose Diva.