Die Liebe erschien mir im Traum einer engen bunten Stadt.
Ich sass unten im Strassenrestaurant und wartete auf die Pizza.
Die Pizza kam nicht, und ich schaute hinauf zu den riesigen, mit Zierbalkonen ausgestatteten Fenstern.
Es waren die obersten Fenster über den Dächern der Stadt.
Aus einem der Fenster schimmerte ein rösliches Licht.
Da wohnt er. Sagte ich oder dachte es.
Die Pizza kam nicht. Der Kellner bediente die umliegenden Gäste mit grossen ovalen Platten. Die Gäste machten sich über Speisen her, die ich noch nie gesehen hatte, überbacken und eingewickelt in einen dicken Belag.
Ich hatte keinen Hunger mehr. Es wurde dunkel und über mir, weit oben, ging Licht an in den Dachgeschossen.
Rösliches Licht schien hinter allen Fenstern, ich wusste nicht mehr, welches Fenster es war.
Aus dem Nebenhaus trat ein Junge, bleich mit
verhangenem Blick. Einen Augenblick lang glaubte ich, er sei es. Er glich ihm aufs Haar.
Lasst uns gehen, sagte ich, denn ein zweiter Junge trat aus dem Haus, ein Mann eigentlich, aber mit so jungenhaftem Gesicht, dass man Lust kriegte, es in die Hände zu nehmen. Ein noch warmes, pulsierendes Gesicht. Sorry: Wie frisch geschlüpft.
Der Mann hatte vielleicht Musik im Kopf. Versunken in sich selbst, stolperte er über den Treppenabsatz und verschwand
in der Stadt.
Wir warteten auf die Pizza, doch der Kellner bediente nur die Nebentische. Warum gehen wir nicht? fragte ich. Wir haben die Pizza schon bezahlt, wir bleiben, sagte mein Vater. Mir war übel. Der ganze Appetit war mir vergangen.
Dann war ich oben. Lief durch den langen Flur, die Dielen bogen sich und knarrten. Es war ein Flur, der alle Dachgeschosse der Stadt miteinander verband, ein bisschen wie die Milchstrasse.
Unter diesen Sternen lief ich im Kreis, lief ich von ihm weg, weil er sich durch mich bedroht fühlte:
Durch jedes meiner Worte, durch jede meiner Gesten, durch meine blosse Anwesenheit. Ich war im Schock und lief, ich musste ja laufen, denn meine Liebe erkannte mich nicht mehr. Ich hatte meine Hand nach ihm ausgestreckt, ich machte einen Schritt nach hinten, ich zitterte und war kümmerlich. So klein und kümmerlich, hielt Einer den Anderen noch für bedrohlich!
Der Kellner hatte uns vergessen mitsamt der Pizza. Mein Vater sagte: dieser Kellner ist unvernünftig. Statt uns die simplen Menüs, die Pizzas zu bringen, bringt er zuerst die aufwendigen Menüs.
Über mir in den Häusern ging die Musik an.
Bässe schmetterten auf die Strasse hinaus, Klaviere schäumten.
So sind sie, sagte ich laut und wichtig über die leeren Teller hinweg zu den vollen Tischen hinüber. Das Nachtleben, nur hier gibt es das. Hoch oben hinter ihren Fenstern geben sie sich jetzt hin, verzücken sich selbst, verzücken die Frauen, so dass diese wieder Mädchen werden. Jede Nacht berühren sie sie mit der Musik, die sie in ihren in Kammern ertüfteln, in all diesen Nächten. Ihre eigenen dunklen Träume, an denen sie arbeiten, ernst und hingebungsvoll, Meister der Effekte, des spontanen Finis, der coolen Wendung, machen sie zu Schlafwandlern am Tag
und nachts für dich wach. Sie küssen dich, huschhusch und behutsam. Und lassen dich schlafen am Tag, lassen sich nicht blicken am Tag, dysphorisch, apathisch, wie sie dann sind. Doch nachts, glaube mir, machen sie dich wach!
Niemals mehr findest du Geschmack an einem blossen Stück Pizza.
Die Gäste am Nebentisch hatten ihre Platten verschlungen. Sie verlangten den Nachtisch.
Weil wir die Pizza schon bezahlt haben, bleiben wir noch. Drei Minuten. Sagte mein Vater. Ich schaute auf die Türen, voller Angst und Schrecken. Jeden Moment konnte eine wieder aufgehen. Ich kann nicht länger, Vater. Soviel Schönheit kann ich als Zombieeater nicht verdauen.
Da erwache ich und mir ist speiübel, exakt so übel, wie in meinem Traum. Erstaunlich. Ich erkenne die Umrisse meines Zimmers, die Gegenstände, ganz langsam. Aber die Orientierung will nicht zurück kommen. Alles bleibt diffus, ungreifbar, schemenhaft.
In diesem zähen Nebel sehe ich wieder sein Lächeln, ein Fliegengewicht, das sich weich und strahlend hell verfing, unter mir. Wie ein Harlekin in Debussys Rêverie.
Du hattest mal wieder einen Alptraum. Komisch, diesen Alptraum hast du doch schon öfters gehabt. Warum sonst erkennst du Einzelheiten, Bilder und Gegenstände darin wieder, und du weisst nicht, wo hast du sie schon mal gesehen: real oder im Schlaf?
Dieser Schmerz, wenn man jemanden verliert an (s)eine krankhafte Phantasie.
Oder habe ich etwa geträumt, diese Bilder, dieser Schrecken, diese Flucht, diese irrationale Wut usw. sind bereits Erscheinungen eines Alptraums, der vielleicht nie stattgefunden hat?
Lass mich in Frieden, Traum.