Memory_Lisa

Lisa war die Schönste im Dorf, aber sie wohnte im abbruchreifsten Haus am Bahndamm.
Lisa war allgegenwärtig: ihre wippende Gestalt, sie hatte schon Brüste, ihre blauen, wimpernumkränzten Augen, ihre Stupsnase
und die schulterlangen dunkelblonden Locken, die sich auch ohne Dauerwelle über der Stirn allerliebst kräuselten.
Lisa war eine der Besten in der Schule und im Sport. Sie machte Hochsprung nicht mit der Beinschere, sondern wie Blanca Vlasic.

Vielleicht, naja, war Lisa ein klein wenig zu pummelig, aber ich bezweifle sehr, ob das stimmt, denn alsbald wurde sie immer dünner und dünner, und beim Sport sah man blaue Adern durch ihre weissen dünnen Beine schimmern, ihr milchiges Puppengesicht verlor das Lachen und wurde gelbstichig.

Jedermann wusste, dass Lisa magersüchtig geworden war, weil ihre Mutter im abbruchreifen Haus am Bahndamm, sehr, sehr breit und üppig war. Und weil sie kein Auto hatten, wie die Mütter der Neureichen, musste Lisa zusehen, wie man ihre Mutter im Dorf anschaute: das ist die Frau von der alten Mosterei, ihr Mann macht noch den Schulhausrasen, sonst reicht es nicht.

Die alte Mosti war ein ebenfalls baufälliger Anbau ans Wohnhaus, aus morschem Holz und mit zerbrochenen Fenster. Als ich noch kleiner war, holten wir dort oft Äpfel und Kartoffel. Es gab keine Lampe, nur das Licht, das durch die kaputten Fenster schien, gab einem in etwa einen Anhaltspunkt, was auf dem Boden der alten Mosti alles rumlag: Seile, Decken, Skier, Säcke voller Kartoffeln und Rüben, Planschbecken und Hundehäuser … usw.

Das Dach wurde durch verstrebte Balken gehalten. Über einen dieser Balken konnte man auf einen weiteren Boden hinaufsteigen. Dort schaute ich immer hin, während meine Mutter das Gemüse abpackte, ich dachte: Wo ist Lisa? Warum erscheint sie nicht, dort
über dem Boden im Erstrich? Aber Lisa liess sich nie blicken in der Mosti, kein einzigesmal.

Offenbar hatte sie sich vorgenommen, sich in Luft aufzulösen, denn in der Neunten Klasse passte Lisa endlich das Turnhöschen einer Vierjährigen. Jeden Tag ging ein lautes Oahhhhhm durch die Klassen, wenn draussen auf dem Flur, Lisa wieder zusammenbrach.

Ich weiss nicht, wie es weiterging. Ich denke, Lisa kam aus dem Dorf weg, ging aufs Gymnasium und brachte dort weiterhin exzellente Leistungen. Mit ihrem hübschen Aussehen war sie jetzt eine von Vielen. Nie lachte sie. Niemand wusste etwas von ihrer Herkunft, und dass sie es sich zu ihrem Ziel gesetzt hatte, in einem Haus zu leben, später, in dem ein Betonquader auf dem andern sass.

(30.7.22)

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