Zur Feier von Dornröschens Geburt sollen dreizehn ältere, weise Weibchen erscheinen, um Dornröschen ihren Segen zu erteilen.
Eine wünscht ihr Tugend, die nächste Schönheit …. die dreizehnte Glücksspenderin kommt zu spät. Und weil sie wütend ist, weil kein goldenes Besteck mehr übrig ist für sie, wünscht sie Dornröschen, es möge sich an seinem 15. Lebensjahr an einer Spindel stechen und in einen hundertjährigen Schlaf fallen.
Als Dornröschen fünfzehn ist, steigt sie einmal in den Schlossturm hinauf. Dort sitzt ein altes Weibchen am Spinnrad. „Ei, was machst du da?“, fragte Dornröschen, sticht sich mit dem Spindel in den Finger und verfällt in einen hundertjährigen Schlaf. (die Eltern hatten unterdessen alle Spindeln für Jahrzehnte aus dem Schloss entfernen lassen.)
In dem Moment, in dem Dornröschen in Schlaf verfällt, werden auch alle andern Lebewesen auf dem Schloss vom Schlaf übermannt: die Pferde, die Küchenmagd, sogar das Feuer über dem Herd schläft ein. Es erlischt.
Nun wachsen die Dornen um Dornröschens Schlafgemach, doch mittendrin liegt Dornröschen, ein schönes, rosiges Mädchen wie in friedlichem Schlaf. Junge Männer, die von der schlafenden Königstocher hören, reisen her und versuchen die Dornen zu durchbrechen, doch sie scheitern daran und sterben.
Als hundert Jahre vergangen sind kommt dann ein Jüngling, ein Königssohn, selbstverständlich. Als dieser zu Dornröschen will, weichen die Dornen wie von Zauberhand zurück, Rosen treten hervor. Der Jüngling tritt an Dornröschens Bett und küsst sie. Dornröschen öffnet die Augen zu wiedergefundenem Leben.
Was ist die „Moral dieser Geschicht“?
Ist es, dass ein junges Mädchen aus der Grimmschen Epoche (1800) nicht neugierig sein darf, zb. auf einen Spindel, weil es sonst mit Unglück bestraft wird? Symbolisiert der Spindel die erwachende Sexualität des Mädchens oder die männliche Lust? Was bedeuten die Dornen, die das Bett des Mädchens zuwachsen? Eugen Drewermann sieht in Dornröschen eine Zweigeteilte: eine, die lieblich im Turm schläft, und eine, die sich mit Dornen rächt an solchen, die sich ihr nähern. Es gibt offenbar eine viel frühere mündliche Version aus dem 17. Jahrhundert, in der Dornröschen im Schlaf vergewaltigt wird und im Tiefschlaf zwei Kinder gebärt. Wenn man das weiss, bekommen die Dornen ihren wahren Sinn zurück. Aber Eugen Drewermann geht noch weiter in seiner bizarren Deutung: er sieht in den Dornen eine Art vagina dentata, eine bezahnte Vagina. Die Dornen, die bei Dornröschen eindeutig einen Schutzmechanismus haben, werden wieder ummoduliert in eine eingebildete Gefahr durch das Weibliche gegen den Mann und Vergewaltiger. Dies ist sehr abstrus und archaisch. Und es zeigt, wie moderne Märchendeuter immer noch alte stereotype Rollenbilder zementieren. Sigmund Freund hält den den langen Schlaf für eine eskapistische Phantasie der Pubertät und C.G. Jung die 13. Fee als unterdrückte Sexualität und Weiblichkeit. Nach Max Lüthi ist das Schloss Paradies und Gefängnis, die erst tödliche, dann blühende Hecke drücke die Polarität von Tod und Auferstehung aus. Andere halten Dornröschen eher für in einem Wachkoma, die Zeit steht still. Heinz Rölleke weist heute nach gründlicher philologischer Vorarbeit darauf hin, wie die junge Marie Hassenpflug (mündliche Weitergabe des Märchens!) offenbar bewusst oder unbewusst wiedergab, womit sie sich identifizieren konnte: Die „15-jährige Prinzessin muss lange in ihrem im doppelten Sinn ohnmächtigen Schlaf taten- und entscheidungslos warten, bis ihr ein Märchenprinz sozusagen in den Schoß fällt.